Ein komisches Gefühl überkommt mich, als die Lichter ausgehen, und sechs Seniorinnen und Senioren die Bühne betreten – bin ich wirklich bereit für das, was jetzt gleich passieren wird? Vor mir ist ein langer Tisch, mit Wasser- und Weingläsern, sechs Stühlen, sechs Mikrofonen. Das Setup lässt eher eine Podiumsdiskussion oder Pressekonferenz vermuten, doch nein, es ist tatsächlich Theater, was hier stattfindet. Basierend auf dem Sexleben von Burkhart, Hannelore, Herbert, Hermine, Moni und Veronika.
All the Sex I’ve Ever Had heißt das Stück, inszeniert von Darren O’Donnell. Der Regisseur reist mit seiner Idee um die Welt, und führt es immer wieder auf, mit anderen Laiendarsteller*innen, Regieassistent*innen, und natürlich vor wechselndem Publikum. Das Konzept bleibt gleich, doch die Inhalte ändern sich.
Ich sitze in der zweiten Reihe, habe glücklicherweise noch eine Pressekarte für die ausverkaufte Vorstellung ergattern können, und möchte gerade mein Notizbuch zücken, als die Regieassistentin auf die Bühne springt und ruft: Das Publikum muss jetzt einen Schwur ableisten! Wir müssen schwören, dass nichts, was in diesem Stück gesagt wird, den Raum verlässt. Na super, denke ich mir, und lege voll von schlechtem Gewissen das Buch zur Seite. Mein anschließendes Gespräch mit dem Veranstalter lässt mich aber erleichtert durchatmen: Im Namen der Presse darf natürlich berichtet werden. Dennoch werde ich aus Respekt den Teilnehmer*innen gegenüber meinen Bericht so anonym wie möglich gestalten.
Es geht also los, und Herbert fängt an zu erzählen: 1941, seine Geburt. Das Konzept von All the Sex I’ve Ever Had ist wahrlich simpel: Die sechs Darsteller*innen erzählen Jahr für Jahr von ihrem (Sex-)leben. Es wird chronologisch vorgegangen. Die Darsteller*innen haben im Vorhinein prägende Erlebnisse aufgeschrieben, und diese sind jetzt in einem Skript nach Jahreszahlen geordnet. Patrick sitzt an einem Nebentisch und rattert robotergleich Jahreszahl für Jahreszahl hinunter. Zu jedem Jahr hat mindestens einer der sechs Darsteller*innen etwas zu sagen. Patrick spielt auch den DJ: Ist ein Jahrzehnt vergangen, erfreuen sich die Senior*innen an einem Song aus dieser Zeit und tanzen dazu wild auf der Bühne. „Alle Mädchen sind böse!“, wird Herbert von klein auf eingetrichtert, und eine andere Darstellerin erzählt dem Publikum zum Jahr 1948:
„Ich saß mit verschränkten Beinen im Sessel, steckte meine Hände dazwischen und merkte: Das fühlt sich gut an.“
Es wird viel geredet über die ersten sexuellen (Miss-) Erfolge, Affären, die ersten Ehen und Ehebrüche, Schwangerschaften, sexuelle (Um-) Orientierung, aber auch Liebe. Oftmals ist es ein harter Schnitt zwischen belustigenden Geschichten aus dem Sexleben von Teenagern, und plötzlichen, tiefen Schicksalsschlägen, bei denen sich die Darsteller*innen selbst schwertun, Fassung zu bewahren. Gerade diese Momente machen die Aufführung so ehrlich: Die Senior*innen legen ihre Fassade ab, sie blicken in die Gesichter des Publikums, und erzählen davon, wie sie ihre eigenen Kinder weggeben mussten, ihre Ehegatt*innen betrogen, oder wie sie ihre Partner*innen vor ihren Augen sterben sahen. Und während dieser emotionalen Achterbahnfahrt ist es umso schöner, wie sich die Darsteller*innen gegenseitig Kraft geben: Sie kannten sich vor den Proben für das Stück nicht, doch jetzt klopfen sie sich gegenseitig ermutigend auf die Schulter, lachen über- und miteinander.
Es fühlt sich nicht komisch an, so explizit über das Sexleben dieser Senior*innen zu erfahren. Sex im Alter – ein großes Tabuthema in unserer Gesellschaft – ist einfach nicht komisch oder abwegig.
Sex gehört für die bis zu 77 Jahren alten Darsteller*innen immer noch zum Alltag. Egal ob mit wechselnden Partner*innen oder Ehegatt*innen. Und während das Stück von Jahr zu Jahr fortschreitet, die Darsteller*innen mehr und mehr über ihre sexuelle Laufbahn erzählen, wird mir klar: Selbst, wenn es damals noch kein Tinder gab, Sex hatten die Menschen jede Menge – vielleicht sogar viel mehr, als wir heutzutage haben.
Der Regisseur hat einen Clou in sein Stück eingebaut: Partizipation. Eine Darstellerin erzählt gerade von ihrem komischsten Masturbationserlebnis, als sie die Frage einfach in die Runde wirft:
„Wer von euch hat schon mal mit einem komischen Gegenstand masturbiert?“
Da sind einige Meldungen im Publikum, und die Regieassistent*innen zögern nicht, den Mutigen mit einem Mikrofon bewaffnet sämtliche W-Fragen zu stellen, die ihnen einfallen. Diese Form von Partizipation findet öfter während der Aufführung statt, und sie lockert die auf Dauer repetitive Art des Stückes durchaus auf. Es recken sich Köpfe, jeder möchte sehen, wer gerade spricht.
Ehe ich mich versehe, sind wir schon im Jahr 2000 angelangt, Konfettibomben explodieren im Theatersaal und decken Darsteller und Publikum ein. Es wird mit Sektgläsern auf der Bühne angestoßen, getanzt und getrunken, und dann melden sich die Senior*innen wieder zu Wort.
Sie erzählen weiter, vom Nackttanzen, den Nächten in Swingerclubs oder Schwulenbars, der Angst vor Krankheiten wie HIV oder Krebs, und gewaltsamen Übergriffen ihrer Partner*innen.
Dann sind wir auch schon recht schnell im Jahr 2017, 76 Jahre Lebensgeschichte von sechs Darstellerinnen und Darstellern liegen hinter uns. Zuletzt gibt es einen Ausblick in die Zukunft. „2041. Ich bin hundert. Ich liege am Strand mit meinem Partner, und wir haben Sex, während das Meer rauscht“, erzählt eine Darstellerin mit wässrigen Augen. Das Licht geht aus, und der Beifall setzt ein. Standing-Ovation für Hannelore, Burkhart, Hermine, Moni und Veronika.
Auch, wenn ich die sechs erst seit knapp zwei Stunden kenne, fühle ich mich komischerweise tief verbunden mit ihnen. Ich kenne ihr gesamtes Leben, und sie wissen nichts über mich. Sich einem unbekannten Publikum so zu öffnen, und später auch noch im Foyer für alle Fragen zur Verfügung zu stehen, das erfordert Mut. Auch ich stehe auf, Applaudiere ihnen, und beginne, über mein eigenes Leben nachzudenken.
Text: Alex Baur
Bilder: Lucia Eggenhoffer und Fabiola Carletti