Unsere Garderobe kennt neben Schwarz und Weiß höchstens noch Anthrazit, die Haare sind drei Millimeter kurz geschoren, das Wohnzimmer ist eine knüppelharte Mid-Century-Wüste, und dank Marie Kondo mussten wir im ersten Lockdown aus der Spüle essen, weil der letzte Suppenteller nicht ausreichend „Joy gesparkt“ hatte. Mit der Reduktion aufs Wesentliche haben wir versucht, dem Chaos in der Welt irgendwie beizukommen – mit dem Effekt, dass wir uns häufig auch gleich selbst damit entsorgt haben. Aber nach einem auf Performance gebürsteten Jahrzehnt des Minimalismus, gefolgt von langen Monaten des kollektiven Seuchen- Hausarrests hat sich der Wind gedreht. Hier sind fünf Gründe, warum unsere 20er Jahre so maßlos und eklektisch werden könnten wie die unserer Urgroßeltern…
#1: Maximalismus ist eine legitime Gegenreaktion
Gesellschaftliche Entwicklungen, Trends und Ideale waren schon immer von seltsamen Paradoxa geprägt. Der Minimalismus der 2010er Jahre war ursprünglich eine Gegenreaktion auf die Exzesse der neureichen Nullerjahre mit ihren überdimensionierten Brand-Logos und gigantischen, auf Pump finanzierten McMansions, die im Herbst 2008 mit dem größten Finanzcrash seit 1929 ihr unrühmliches Ende fanden. Millionen Menschen in den USA und Europa verloren über Nacht ihren Besitz, ihre Altersvorsorge und ihre Jobs. Mit einem Mal war das unmittelbare Zurschaustellen von Reichtum ziemlich unsexy geworden, was einen globalen Lifestyle-Trend des „Sich Besinnens auf das Wesentliche“ zur Folge hatte. Allerdings war diese gutbürgerliche Tugend mit einem kleinen, der Idee widersprechenden Haken versehen: Der neue Minimalismus war vieles, aber nicht bescheiden. Parallel zu den eben erst gestarteten, bildbasierten Social Media entwickelte sich bis Mitte der 2010er Jahre eine elitäre Kultur der Selbstdarstellung, die auf sündhaft teure, skandinavische Vintage-Möbel und hochwertige Designer Fashion setzte. Mittlerweile hat die allerneueste Sachlichkeit ihren Zenit aber schon wieder überschritten. In den vergangenen zwei Jahren hat sich ein Gegentrend hin zum unbeschwerten Maximalismus bemerkbar gemacht, der viel besser zu unserer gesellschaftlichen Gegenwart passt als das elitäre (Fast-)Nichts. Man umgibt sich eben mit dem Kram, der einen im Leben so begleitet. Da muss man nichts kuratieren, und wenn es kein allgemein anerkanntes, „schönes“ Stück ist, mit dem man auf Instagram posiert, dann erzählt das ja auch etwas über dessen jeweilige Besitzerin oder Besitzer.
#2: Maximalismus entspricht unserer diversen Realität
Es ist wohl einer herangewachsenen Generation Z zu verdanken, dass Diversity nicht länger nur ein Ideal ist, das man mit schönen One-Linern auf Social Media beschwört, während man selbst darum bemüht ist, nur ja nicht aus der jeweiligen Reihe zu tanzen. Ein Blick in den Insta-Feed des kleinen Geschwisterchens genügt, um zu erkennen, dass die fast schon protestantische Strenge, mit der die hyper-ironischen Millennials ihre Version der Coolness gelebt haben, einer beneidenswerten Lockerheit unter den Teens und Tweens der frühen 20er gewichen ist. Egal ob in Bezug auf Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, Style oder Musikgeschmack – je bunter, desto besser. Das ostentative Zurschaustellen seltsamer Eigenarten hat die sublimierte Einfachheit als herrschendes Ideal abgelöst. Ähnlich wie die glatte Nüchternheit der 1960er Jahre vom überbordenden Camp der 70er beerbt wurde, erleben wir gerade den Beginn einer neuen Ära des eklektischen „More is More“. Gerade die Themen der LGBTQIA+ Community haben in den vergangenen Jahren so viel an (pop-)kultureller Relevanz gewonnen, dass der Anspruch, menschliche Eigenheiten in strenge Formen pressen zu müssen, nicht länger mehrheitsfähig ist. Es scheint, als hätte gerade unter jüngeren Leuten ein Umdenken dahingehend stattgefunden, wie man mit der chaotischen Realität der menschlichen Vielfalt umzugehen versucht: nicht mehr durch disziplinierte (Selbst-)Unterwerfung, sondern durch maximale Selbstbejahung. Der alte Minimalismus spießt sich nämlich mit der neuen Diversity.
“Es braucht eine neue Attitüde, die sich nicht mehr zu cool ist, naiv und groß zu denken, laut zu sein und endlich jene wesentlichen Veränderungen anzustoßen, die wir so dringend brauchen.”
#3: Maximalismus ist inklusiv
Wenn die Reduktion auf das Wesentliche zum Ideal erklärt wird, stellt sich eine Frage, die im Kern zutiefst politisch ist: Wer bestimmt, was dieses Wesentliche eigentlich ist? Adolph Loos, einer der renommiertesten Pioniere der minimalistischen Moderne, hat sich in seinem berüchtigten Essay „Ornament und Verbrechen“ zur entlarvenden Behauptung verstiegen, dass jede Form des „Unnötigen“, der Zierde und der Dekoration ein Kennzeichen „niederer Kulturen“ sei. Alles Eklektische setzte er in seiner grenzenlosen europäischen Selbstüberschätzung mit einem Zustand von „Barbarei“ gleich. Es ist nicht besonders schwer sich vorzustellen, welche Art von Menschen da gemeint war. Demgegenüber lässt ein lustvoll gelebter Maximalismus Platz für alle, die sich den exklusiven Lifestyle-Regeln einer traditionell weißen, bürgerlichen, meist männlichen Elite nicht unterwerfen können oder wollen. Maximalismus klingt zwar nach obszöner Maßlosigkeit, ist aber im Grunde nur ein Wort für Offenheit gegenüber anderen Formen zu leben, zu denken und ganz einfach man selbst zu sein. Eine maximalistische Lebenseinstellung bedeutet den radikalen Bruch mit den repressiven sozialen Normen einer patriarchalischen, eurozentrischen Bürgerlichkeit, die wir ein für alle Mal hinter uns zu lassen im Begriff sind. Zumindest hoffen wir das.
#4: Maximalismus ist besser für die Seele
Auch wenn es aufs erste Hinhören seltsam klingt: Eine maximalistische Lebenseinstellung könnte uns vor einer Menge seelischer Verwerfungen bewahren. Die westliche Leitkultur ist seit Jahrhunderten vom Ideal persönlicher Zurückhaltung geprägt. Und obwohl wir spätestens seit Sigmund Freud wissen, was ein unterdrücktes Selbst mit einem Menschen macht, sind wir bis heute besessen davon, uns zu optimieren, Impulse zu kontrollieren und dem äußeren Anschein mehr Bedeutung beizumessen als dem inneren Sein. Demgegenüber könnte eine neue, maximalistische Einstellung zum Ich Entspannung bringen. Schlechte Haut? Egal. Mieser Job? Haben die meisten. Uncool? Ist das neue Cool. Die Tatsache, dass Mental-Health-Themen gerade unter der heranwachsenden Generation Z einen sehr hohen Stellenwert besitzen, könnte ein Hinweis darauf sein, dass wir es in Zukunft mit einem tendenziell lebensbejahenderen sozialen Klima zu tun haben könnten. Wenn wir endlich aufhören würden, jede unserer Eigenschaften, Wünsche und Sehnsüchte zu unterdrücken, die nicht ins Bild eines schönen, erfolgreichen und Social-Media-tauglichen Selbst passen – wer weiß, was für eine Welt dann möglich wäre.
#5: Maximalismus ist das politische Gebot der Stunde
Es gibt da diesen alten Spruch: „Wer mit 20 nicht radikal ist, hat kein Herz. Wer es mit 40 ist, der hat kein Hirn.“ Auch wenn die bürgerliche Tugend des Maßhaltens an sich ihre Qualitäten hat – angesichts unserer ökologischen und sozioökonomischen Zukunftsperspektiven scheint die Zeit gekommen zu sein, in gesellschaftspolitischer Hinsicht aufs Ganze zu gehen. Die Zeit der Zurückhaltung, der kleinen Schritte und noch kleineren Träume neigt sich dem Ende zu. Von Zero Waste über Zero Emissions bis Zero Covid – die 2020er gehören den maximalen Forderungen. Ob das immer eine gute Idee ist, sei einmal dahingestellt. Aber gegen den sich immer schneller manifestierenden Klimawandel oder die sich mit atemberaubender Geschwindigkeit öffnende Schere zwischen Arm und Reich braucht es eine neue Attitüde, die sich nicht mehr zu cool ist, naiv und groß zu denken, laut zu sein und endlich jene wesentlichen Veränderungen anzustoßen, die wir so dringend brauchen. Ein maximalistischer Blick auf die Welt mag zum Scheitern verurteilt sein, weil natürlich nie alles so kommt, wie man es will. Aber selbst, wenn nur ein kleiner Teil unserer großen Träume Wirklichkeit wird, ist das immer noch mehr, als wenn wir uns von vornherein in eitler Kleinlichkeit verlieren, weil wir Angst haben, wie Idioten dazustehen. Auf in die goldenen 20er Jahre!
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Editor
Klemens Gindl
Photography
Mati Gelman