Was ist für dich der Inbegriff einer gestressten Person? Hast du etwa einen Anna Wintour Verschnitt mit Blackberry und Starbucks Becher in der Hand vor Augen, der mehr Mails am Tag beantwortet als du überhaupt jemals bekommen hast? Oder siehst du eine Kim Kardashian, wie sie hastig 3 Kilogramm Salat aus einem Plastikbehälter schaufelt, während sie für das nächste Shooting geschminkt wird? Oder ist es für dich einfach diese eine Person, die auf der Party nur “kurz vorbeischauen kann”, weil sie noch auf 5 anderen Events an diesem Abend einen Auftritt hinlegen muss?
Egal, was für dich das Abbild von Stress ist: Menschen, die viel zu tun haben, unter konstantem Stress leiden, und multitasken müssen sind in der Regel “wichtig”, und haben deshalb einen höheren sozialen Status – aber, stimmt das überhaupt? Und wenn ja, wieso?
Gestresst sein ist unser neues soziales Kapital
Das ist zumindest die Annahme: Wer gestresst ist, der ist wichtig, denn der hat immer was zu erzählen aus seinem Leben, und grundsätzlich ganz wenig Zeit. Da wird um jede Minute gehandelt “Nein, geh noch nicht nach Hause, es ist doch grad so lustig!”, nachgefragt “Na, wieso bist du denn schon wieder so abgehetzt?”, oder Rücksicht auf einen genommen “Ich weiß, du bist eh total im Stress, deshalb werd ich heute mal den Abwasch machen”. Wer gestresst ist, hat außerdem gleich mal eine Entschuldigung für Alles und Jeden: Keine Lust auf die Hausparty? Kein Problem, denn jeder weiß, wie viel man sonst zu tun hat. Lieber mal sagen, man “schaut kurz vorbei”. Denn wer nebenbei auch noch viele soziale Verpflichtungen hat, ist ja sowieso schon viel begehrter.
#StressedAndDepressed als Lebensziel
Ich selbst ertappe mich dabei, den Stress als Vorwand für alles zu benutzen. Angesprochen auf die Frage, wie es mir denn gehe, antworte ich eigentlich immer gleich: “Ach, ganz gut eigentlich, nur ein bisschen gestresst!”. Und, es ist ja keine Lüge: Ich empfinde wirklich fast jeden Tag Stress. Stress, diese eine Uni-Abgabe nicht zu versäumen, Stress, pünktlich im Büro aufzutauchen und nebenbei noch mit guten Ideen um mich zu werfen, Stress, meine Freund*innen und den Freund zu sehen, ja, sogar Stress, den Urlaub noch in letzter Minute zu organisieren. Und wenn ich dann mit allem fertig bin, steht entweder das nächste Projekt an, oder ich weiß gar nicht, was ich jetzt eigentlich mit mir selbst anfangen soll. Denn, wenn ich erst mal ganz in den Leerlauf schalte, komme ich nicht so schnell wieder in’s Rollen. Ich tue mir unglaublich schwer dabei, wieder in den Daily Hustle zu starten, wenn ich erst mal raus bin. Nach drei Wochen außerhalb der Großstadt fühle ich mich zwar sofort wieder in den ranzigen U-Bahnen zuhause, doch der Büroalltag scheint mir ferner denn je. Und was nützt schon eine Auszeit, wenn das Stresslevel danach sofort wieder in die Höhe schnellt? Der Berg an Arbeit, der sich da so angesammelt hat, wird ja auch nicht von selbst kleiner. Dass gerade 25-jährige am anfälligsten für Depressionen und Angststörungen sind, dürfte mittlerweile nicht mehr überraschen.
Von wegen Selbstverwirklichung
Ach ja, wie oft wir es zu hören bekommen: Wir sind die Generation, die alles werden kann. Wir dürfen studieren, Praktika machen, in eine große Stadt ziehen, und den Beruf ausüben, den wir wirklich immer wollten, können Dinge tun, in denen wir gut sind. Klingt ja alles ganz schön toll, doch allerdings dürfen wir nicht, sondern müssen wir, die Generation Y. Was ein Millenial eigentlich ist, muss ich glaube ich nicht mehr erklären. Das Vorzeige-Exemplar sollte mit 20 eigentlich schon ein abgeschlossenes Grafikstudium inklusive 10 Jahren Berufserfahrung besitzen. Dass das rein rechnerisch nicht geht, sehe sogar ich als Mathe-Niete ein, und trotzdem ist da dieser Druck, irgendwie den Vorgaben gerecht werden. Denn wenn wir ehrlich sind, hat der Vorzeige-Millenial sein Studium in Publizistik eben mit spätestens 24 abgeschlossen, und nebenher in der coolsten PR-Agentur der Stadt ein Praktikum nach dem anderen absolviert.
Noradrenalin ist das neue Luis Vuitton
Also doch lieber weiterackern, das Sozialleben nicht vernachlässigen, und generell nie mehr als 2o Minuten für einen Kaffee haben. Ja, Stress scheint wirklich ein Statussymbol zu sein: Was früher eine Luis Vuitton Handtasche war, ist heute das Hormon Noradrenalin. Doch machen weder eine Handtasche, noch irgendein biochemischer Botenstoff unbegrenzt glücklich. Vielleicht ist Stress zazsächlich eine Form von sozialem Kapital, Zeit für Freunde hingegen ist (um die Wirtschaftsmetapher einmal abzurunden) goldwert.
Text: Alex Baur