Sex

Tabu-Thema Chems: “Keiner ist bei klarem Verstand”

Dorian Rammer, der Gastautor dieses Beitrags, ist 26 Jahre alt, ausgebildeter Rettungssanitäter, ehemaliger Regenbogenparade-Mitorganisator sowie SPÖ-Funktionär. Bevor er sich in freiwillige Entzugstherapie begibt, berichtet er in diesem Appell über seine Abhängigkeit von Rauschmitteln, die explosionsartige Verbreitung von schwulen Drogen-Sex-Partys und fordert die Regierung der Stadt Wien zum schnellen Handeln auf.

Bevor ich mich zu meiner 112-tägigen stationären Therapie vertschüsse, möchte ich noch auf ein Problem eingehen, das sich seit einiger Zeit intensiviert und mich in den vergangenen eineinhalb Jahren vielfach sehr schockiert hat.

Eine Rutsche ins Verderben

Seit Ende 2012 bin ich in der schwulen Szene in Wien unterwegs, regelmäßig in der einschlägigen Nachtgastronomie ausgegangen, habe diverse Großveranstaltungen mitorganisert und mir ein enormes Netzwerk in der LGBTIQ*-“Community” aufgebaut. Wie schon oft durchgekaut, bin ich selbst recht anfällig für Drogen (gewesen) und habe die Effekte von Alkohol, Kokain, Mephedron, Speed, Gammahydroxybutyrat (GHB oder “Liquid Ecstasy”) usw. stark auszunutzen gewusst – bis zu dem Punkt hin, dass mein Leben eher von den Substanzen bestimmt war, als umgekehrt.

Der Ex-SPÖ-Funktionär Dorian Rammer hat den Tiefpunkt mit Drogen erlebt, begibt sich nun freiwillig in den Entzug und fordert nun ein stärkeres Eingreifen der Politik.

Aufstieg und Fall

Sucht kann viele Formen annehmen. Bei mir bedeutet sie, dass ich den Großteil meines ohnehin schon gering vorhandenen Geldes ins Fortgehen getsteckt habe und mich eher in ein ähnlich verkorkstes Umfeld verdrückt habe, statt mich meinen Problemen zu stellen. Ich bin in einen Teufelskreislauf gestolpert, der von Substanzen und der damit verbundenen Verdrängung bestimmt war. Meine Woche war zunehmend auf das Feiern ausgerichtet, nach oft mehrtägigen Exzessen war eine mehrtägige Erholungsphase quasi schon standardmäßig einzuplanen. Jeder Versuch, den Kreislauf zu durchbrechen, wurde durch das korrumpierte Umfeld und meine eigenen Selbstwertprobleme bzw. den damit verbundenen Schutz- und Verdrängungsmechanismen zunichte gemacht. Meine Energie, mein Antrieb, meine Motivation waren am Boden. Suizidgedanken waren gerade im letzten Jahr keine Seltenheit, das Leben schien ich nicht mehr zu meistern: Mein ruinöser Abstieg über die Jahre vom vielversprechenden Politikaktivisten bis hin zum armutsgefangenen Barkeeper, der die meiste Freizeit am selben Arbeitsplatz “vertrank”, machte mir enorm zu schaffen und jegliche Zukunftsaussichten erschienen mir schwarz wie die Nacht. Der Kontakt zur Familie und zu eigentlich wirklich guten (“normalen”) Freunden verflüchtigte sich.

Gleich und gleich verstärkt sich

Ich war aber nicht alleine. Ich umgab mich mit einem Umfeld, dem es mehrheitlich ähnlich erging. Ich denke, dass ein großer Teil der homosexuellen Menschen ein gewisses Problem mit dem persönlichen Selbstwert hat, aber vielen ist das natürlich nicht bewusst. Durch ein Aufwachsen in permanenter Präsenz des eigenen “Andersseins” aufgrund der leider noch nicht mehrheitlich vorhandenen gelebten Toleranz, Akzeptanz und echten Inklusion, internalisieren viele homosexuelle Menschen ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl. Nicht umsonst sind auch so viele schwule Männer ihr Leben lang meist Single und haben nur oberflächliche Sexdates, sind sogar überzeugt davon, dass sie genau nur das wollen. Das zeigt klar: wer in der Lage ist, andere zu lieben und Liebe von anderen wirklich anzunehmen, der muss zuallererst einmal lernen, sich selbst zu lieben. Doch für viele ist das ein lebenslanger Prozess. Man sieht diese Problematik beispielsweise auch daran, dass gerade unter schwulen Männern der Drang nach (äußerer) Selbstverwirklichung so groß ist: sei es im Fitnessstudio, im Berufsleben oder im Kreativen – was ja auch alles seine klar ersichtlichen Vorteile hat. Die Ursache ist allerdings die Suche nach externer Bestätigung.

3 Tage Afterhour

Gerade seit meiner Arbeit im schwulen Nachtleben im ersten Halbjahr 2022 bin ich stark in Kontakt mit Chemsex-Partys und mehrtägigen Drogen-Partys gekommen, die in der schwulen Szene Wiens rasant zunehmen. Diese kommen oft nach normalen “Fortgeh-Events” zustande, wo bereits Drogen konsumiert werden und die Stimmung anschließend auch im privaten Bereich noch im Rahmen einer “Afterhour” aufrechterhalten werden soll. Männer, die sich attraktiv finden, gehen gemeinsam in Grüppchen nach Hause in eine entsprechend geeignete Wohnung, in welcher dann weitergefeiert wird und es oft auch zu sexuellen (Gruppen-)Interaktionen kommt, die durch die Einnahme von anregenden Substanzen (Mephedron, GHB u.ä.) in wilden Rudelorgien enden können. Das kann dann auch mal 2-3 Tage hindurch ablaufen.

Geistiger Ausnahmezustand

Selbstverständlich ist dann keiner mehr bei klarem Verstand und was ich da bei der ein oder anderen Gelegenheit erfahren durfte, das sprengt jegliche Fantasie der Durchschnittsösterreicher:innen. Viele Drogennotfälle insbesondere auf GHB habe ich behandelt, einmal habe ich im Rahmen dessen auch die Notbremse gezogen und für einen Teilnehmer die Rettung gerufen. Leider bin ich in dieser Zeit der moralisch grenzwertigen Eskapaden nur selten auf Mitmenschen gestoßen, die noch ähnlich bei Vernunft waren und entsprechende Mitmenschlichkeit an den Tag zu legen vermochten. Beinahe-Vergewaltigungen sind mir begegnet ebenso wie die Rücksichtslosigkeit, Partyteilnehmer, die schon zu viel hatten, in ihrem bedenklichen Zustand einfach vor die Tür setzen zu wollen. Bei einer Party ist jemand halbnackt aus seiner eigenen Wohnung gerannt und verschwand. Seine Freunde samt mir mussten ihn daraufhin über eine Stunde suchen, bis die das Chaos auflösende Meldung hereinkam: er war wie in Trance bei einer anderen solchen Homeparty aufgetaucht ohne Erinnerungen daran, wie er dort hingekommen war.

Menschen, die sich so etwas regelmäßig geben und dabei jedes Mal Grenzen überschreiten, Risiken eingehen und unmoralische Handlungen setzen, die sie nüchtern vielleicht nie tun würden – diese haben rational gesehen klar ein Problem. Und ich kann jeden, der in einer ähnlichen Spirale gefangen war wie ich, oder dem solche Ereignisse bekannt vorkommen, nur in aller Freundschaft bitten und auffordern, sich wie ich in Hilfe zu begeben. Oder zumindest Menschlichkeit an den Tag zu legen und anderen, denen es nicht gut geht oder die im Rahmen des Konsums gar nicht mehr imstande sind, ihre Lage korrekt zu beurteilen, zu helfen ohne ausschließlich ans eigene Wohlergehen und den eigenen Spaß im Moment zu denken.

Verlieren wir eine Generation?

Einige Konsumenten sind innerhalb weniger Monate auf eine Menge und ein Toleranzlevel von diversen Substanzen gekommen, welche ich innerhalb von 10 Jahren nicht erreicht habe. Ein Gramm Mephedron ist leicht erhältlich und kostet teils nur 20€. Zum Vergleich: für ein Gramm Kokain muss man ca. 100 Euro zahlen. In die Suchtfalle zu tappen, ist schon lange nicht mehr teuer! Erschreckend ist schlussendlich für mich auch das Alter der Protagonisten: Was soll bei fortwährendem Drogenkonsum aus diesen 17, 18, 19, 20-Jährigen einmal werden?

Mein Appell an die Institutionen der Stadt Wien ist natürlich klar: Bitte leistet da noch VIEL mehr proaktive Aufklärungsarbeit, z.B. über Chemsex, dessen Risiken und Methoden zur Abwendung von Drogennotfällen. 

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

Wer in eine Abhängigkeit geraten ist, kann sich umgehend an Hilfsstellen in Wien wenden. Der Psychosoziale Dienst (PSD) der Stadt Wien ist unter 01 31330 zu erreichen.
Mehr Informationen zum Thema gibt es auf chemsex.at.

Header: Altin Ferreira via unsplash

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