Activist Edition

Eine Anleitung für Weltverbesserer:innen und solche, die es werden wollen

Wer sich im Jahr 2022 nicht für eine gute Sache engagiert, ist in der (digitalen) Öffentlichkeit schon fast kein Mensch mehr. Ob Klimakrise, Pandemie, Wladimir Putins Krieg oder der Kampf um Minderheitenrechte – gefühlt steht unsere Welt vor einem Abgrund, und wenn wir es nicht schaffen, die homophoben Kriegstreibenden, Rassist:innen, Impfgegner:innen und Klimawandelleugner:innen alsbald auf den rechten Weg zu bringen, machen wir uns mitschuldig am Untergang der Menschheit. Aber wie überzeugt man jemanden, der anderer Meinung ist? Wie verändert man die Welt? Genügt es, wenn man selbst alles richtig macht? Hier sind fünf goldene Regeln für einen Aktivismus, der nicht nur dem eigenen Gewissen hilft …

#1: Die Macht der Popkultur nutzen

Ein knackiges Hashtag, ein empörter Retweet, ein griffiger Spruch auf dem Shirt. Vieles, was wir so im Alltag tun, um Engagement für eine gerechte Sache zu demonstrieren, ist genau das – eine Demonstration unseres guten Willens. Eine Rückversicherung an die eigene Community und an uns selbst, auf der richtigen Seite zu stehen. Der Vorwurf des sogenannten „Slacktivism“, des billigen Pseudo-Aktivismus, der nichts kostet und wenig Arbeit macht, folgt meist auf dem Fuß. Tatsächlich leben wir in einer Welt, in der Aktivismus – was immer man genau darunter versteht – eine Art Lifestyle geworden ist. Ausgerechnet die LGBTQIA+ Community hat erheblich zur popkulturellen Verdinglichung des Engagements beigetragen. „Pride“ etwa ist zu einem globalen, positiv besetzten Marketing-Buzz-Word geworden, und kein Unternehmen, kein Popstar, keine kulturelle Institution kommt mittlerweile ohne den Hinweis auf Diversity aus. Der Begriff „Aktivist:in“ wird heute scheinbar sinnentleert im Zusammenhang mit einer „Be Yourself“-Botschaft verwendet, die wiederum eng an den Konsum von Produkten gekoppelt ist. Lifestyle-Aktivismus, so werfen wir einander gerne vor, hat nichts mehr mit der Frage zu tun, wie man die Gesellschaft verändern kann, sondern nur mehr damit, welche Produkte man konsumieren darf, um ein guter Mensch zu sein. Auch wenn diese Art der Kritik nicht unberechtigt ist, darf gleichzeitig nicht übersehen werden, welchen Einfluss die sogenannte Popkultur auf unsere Lebensrealitäten hat. Gerade Social-Justice-Bewegungen wie Black Lives Matter, Fridays for Future oder das LGBTQIA+ Movement wären nicht so erfolgreich, wenn sie nicht auch popkulturelle Phänomene wären, die von Vertreter:innen der Unterhaltungsindustrie aufgegriffen und promoted werden würden. Der kommerzialisierte und teils inflationäre Gebrauch von Kampfbegriffen aus 50 Jahren LGBTQIA+ Aktivismus etwa ist nicht zuletzt ein Hinweis auf dessen durchschlagenden Erfolg. Auch Ideen müssen sexy sein, um sich am Ende durchsetzen zu können.

#2: Aus der eigenen Bubble steigen

Die großen Konflikte unserer Gegenwart verlaufen entlang erstaunlich klar abgesteckter Trennlinien: öko gegen liberal, Wissenschaft gegen Esoterik, Punks gegen Nazis, links gegen rechts, aufgeschlossen gegen homophob. Unsere jeweiligen Überzeugungen und Weltbilder haben dabei ganz wesentlich mit jenem Umfeld zu tun, in dem wir sozialisiert wurden. Weil wir Menschen aber dazu neigen, die eigenen analytischen Fähigkeiten massiv zu überschätzen, bilden wir uns ein, aufgrund unserer autonomen Erkenntnisse über das Wesen der Dinge Teil des jeweiligen Lagers zu sein und nicht umgekehrt. Wir glauben, dass wir zu „den Linken“ gehören, weil wir erkannt haben, dass der Kapitalismus die Wurzel allen Übels ist. Andere wiederum glauben, dass sie sich der neuen Rechten zugehörig fühlen, weil sie kapiert haben, dass das Ende der heterosexuellen Kernfamilie in die blanke Anarchie führt. Auch wenn es spätestens seit Friedrich Nietzsche als erwiesen gilt, wollen wir immer noch nicht akzeptieren, dass unsere „Wahrheiten“ sozial konstruiert sind. Das hat zur Folge, dass zwischen den weltanschaulichen Lagern unserer Gegenwart nahezu unüberwindbare Gräben klaffen. Und solange ein jedes seine eigenen Wahrheiten pflegt, muss die andere Seite einfach falsch liegen. Unglücklicherweise wissen in der Regel beide Lager, welches das jeweils Irrende ist. Vor diesem Hintergrund ist sinnvoller Aktivismus – egal für welche gute Sache – unmöglich. Ohne die Bereitschaft, einen Schritt aus der eigenen Blase heraus zu machen, dient jede Form von Engagement nur der Bestätigung des eigenen Selbst.


” Man muss die Dinge nur beim Namen nennen, möglichst oft und möglichst laut, dann wird die hartnäckige Ignoranz der großen Mehrheit irgendwann ein Ende haben. Dieser – vor allem in den sozialen Medien stark verbreiteten – Form “


#3: Keine Predigten halten

Jede:r kennt vermutlich das Gefühl der Frustration angesichts einer Welt, die einfach nicht erkennen will, auf welchem Holzweg sie sich doch befindet. Dass unser globaler CO2-Ausstoß für die Erwärmung des Klimas verantwortlich ist – ein Fakt! Dass Impfungen nachweislich vor schweren Erkrankungen schützen – klar erwiesen! Dass Sprache unser Denken formt und dass das weiße Cis-Patriarchat Grund für die anhaltende Diskriminierung von Minderheiten ist – geschenkt! Man muss die Dinge nur beim Namen nennen, möglichst oft und möglichst laut, dann wird die hartnäckige Ignoranz der großen Mehrheit irgendwann ein Ende haben. Dieser – vor allem in den sozialen Medien stark verbreiteten – Form des Aktivismus liegt die Illusion zugrunde, dass es den vielen Andersdenkenden schlicht am notwendigen Wissen mangelt. Dies ist eine Haltung, die, selbst wenn sie in manchen Fällen zutrifft, vor allem eines vermittelt: die Arroganz des oder der Predigenden. Wer predigt, hört nicht zu und vermittelt gleichzeitig seinem Gegenüber das Gefühl von Unzulänglichkeit dafür, es einfach nicht kapiert zu haben. Auch wenn die Aufklärung das Gegenteil behauptet, sind es in aller Regel keine Fakten, die Menschen überzeugen, sondern Emotionen. Die Adressat:innen einer Predigt erinnern sich weniger an die Inhalte des Vortrags als daran, wie sie sich dabei gefühlt haben – verstanden oder unverstanden, respektiert oder verachtet, inspiriert oder frustriert. Es sind Leidenschaft, Humor und Offenheit, die Menschen dazu bewegen können, einmal etwas anders zu machen, und nicht Pädagogik.

#4: Der radikalen Versuchung widerstehen

Das Problem ist nicht das N-Wort, Elektroautos retten nicht das Klima, Quoten bringen wenig, und der Kampf um Repräsentation ist nichts als Eskapismus – was wir bekämpfen müssen, sind nicht die Symptome, sondern das System! Was in jedem Hörsaal und in jeder Kneipenrunde unter Gleichgesinnten reizvoll klingt, ist in Hinblick auf gelebten Aktivismus so verbreitet wie fatal: der Anspruch, das Problem an seiner Wurzel anzupacken und mit Butz und Stingl auf den Kompost der Geschichte zu verfrachten. Nicht nur, dass man sich mit diesem Anspruch in der Regel übernimmt, es stellt sich immer auch die Frage, was genau mit dem System gemeint ist, das es da zu stürzen gilt. Der Kapitalismus? Das Patriarchat? Oder, um auch einmal die „andere“ Seite zu zitieren: die Demokratie? Die Idee der Gleichheit aller Menschen? Oft fällt die Antwort dann erstaunlich knapp aus, was bei einem skeptisch eingestellten Gegenüber nicht unbedingt vertrauensbildend wirkt. Und während das Bedürfnis nach arkanem Wissen über letztgültige Ursachen verzeihlich – weil sehr menschlich – ist, haben fundamentalistische Ideen und Aktionen sehr oft eine paradoxe Wirkung: Sie verschrecken jene Menschen, deren Hearts and Minds man eigentlich gewinnen möchte. Je radikaler sich aktivistisches Handeln ausdrückt, umso wirkungsloser ist es bei jenem Teil einer Gesellschaft, auf den es ankommt: der Mehrheit. Weil man sich dann vor den „Guten“ oft so fürchtet, dass man ihnen gar nicht zuhört. Harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen? Der Zweck heiligt die Mittel? Wenn es um konstruktive Veränderung zum Positiven geht, dann eher nicht. Aktiv werden heißt immer auch, pragmatisch bleiben. Das Radikale ist mehr was für den Kopf als für die Welt.

#5: Machen statt quatschen

Beim Wort „Aktivismus“ denken wir gerne an die öffentlichkeitswirksame Aktion, an inspirierende Persönlichkeiten wie Martin Luther King, Harvey Milk oder auch Greta Thunberg. Dabei findet der Großteil dessen, was dem Kriterium des Aktivismus entspricht – aktiv werden und etwas tun – nicht auf der großen (Social-Media-)Bühne statt. Die Idee, als engagiertes Individuum die gesamte Menschheit in bessere Zeiten zu führen, ist zwar eine vordergründig noble Fantasie, aber es haftet ihr auch eine gewisse Hybris an, die uns im Kleinen vielleicht davon abhält, die Welt mit unserem Tun eben ein kleines bisschen besser zu machen. Jedes Gespräch, jede offen und respektvoll geführte Debatte mit jemandem, der nicht dieselbe Sicht auf unsere gemeinsam bewohnte Welt hat, bewirken mehr als tausend Social-Media-Posts, die immer nur die eigene Blase bedienen. Das große Erfolgsgeheimnis der LGBTQIA+ Bewegung liegt vielleicht gar nicht so sehr im bunten Aktionismus, mit dem wir selbst und andere sie gern assoziieren. Es liegt im Alltags-Aktivismus eines gleichberechtigten Umgangs mit anderen Menschen innerhalb einer Mehrheitsgesellschaft, die noch immer viel zu sehr auf Brutalität und normativer Herrschaft basiert.

CREDITS

Editor
Klemens Gindl

Photography
Markus Morianz



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