Dieser Artikel erschien bei uns erstmals 2015.
Warum man manchmal vor dem Sprechen denken sollte
Es ist Samstagabend und ich habe mich dazu entschlossen, die Einladung zur WG-Party tatsächlich anzunehmen. Ich stelle mich also auf einen Abend bestehend aus Chili-con-Carne, Käsewürfeln und Billig-Bier ein, überlege mir Strategien, die Gespräche über Uni / Dozenten / Seminare zu vermeiden, kaufe noch schnell eine zu teure Flasche zu schlechten Wein im Späti, die mich hoffentlich durch den Abend bringen wird, und drücke die Klingel. Als ich den „Liebe Nachbarn, heute könnte es ein bisschen lauter werden – aber kommt doch einfach auch vorbei!“-Zettel sehe, zögere ich kurz. Noch ist es nicht zu spät. Noch hat mich niemand gesehen. Aber nein, da muss ich jetzt durch. Mir fallen keine Ausreden mehr ein, um diese Einladungen abzulehnen.
Ich gehe also hoch. Es ist nicht ganz so schlimm wie erwartet, fast schon okay. Es läuft schlechte Musik, die Gespräche sind so lauwarm wie das Essen, aber es gibt Bowle. Und da kann ich irgendwie nicht nein sagen. Nach ein paar Gläsern zeigt sie ihre Wirkung und ich lasse mich auf Gespräche ein, die an sich zu nichts führen, aber man will ja nicht unhöflich sein – und so schlimm war es auch gar nicht. Ein bisschen Socializing, um den nächsten Tag das Bett mit gutem Gewissen nicht zu verlassen.
Und dann ist da auf einmal dieses Mädchen. Nennen wir sie Tina. Tina ist vom Typ her ein Pferde-Mädchen. Sie trägt eine dieser Bench-Jacken mit Klett-Kragen, deren Existenz ich bewusst verdrängt habe. An ihrer Schulter hängt eine Tasche, welche mit dem Schriftzug „BerlinBerlinBerlin“ verziert ist, was einerseits von schlechtem Geschmack zeugt, andererseits die Trägerin sofort als Touristin outet. Tina kommt, wie sie mir sofort erzählt, tatsächlich nicht aus Berlin. Sondern aus einem kleinen Vorort in der Nähe von Braunschweig, wo sie eine Ausbildung zur Tierarzthelferin macht. Sie ist dieses Wochenende zu Besuch in der Hauptstadt und findet das alles total crazy hier. Sie war heute sogar schon bei H&M shoppen und zeigt mir ihre Madame-Tussauds-Selfies. Tina schafft es irgendwie, mich einerseits furchtbar aggressiv zu machen, andererseits belustigt mich das Gespräch – ich komme mir vor wie ein arroganter Schnösel, halte den Smalltalk aber am Laufen. Bis es zu folgendem Dialog kommt:
„Sag mal, darf ich dich mal was fragen?“
„Ja. Frag.“
„Du … Du bist schon schwul, ne?“
„Äh … ja?“
„Oh wie cool ist das denn? Das hab ich ja gleich gesehen. Ach, ich finde das total super! Meine eine Freundin die kennt auch ’nen Schwulen und der ist auch megacool. Also ich finde das voll super, dass du schwul bist.“
Und ich bin sprachlos.
Das ist auch leider nicht das erste Mal, dass sowas passiert. Und ich bin sicherlich auch nicht der einzige, dem sowas passiert. Am liebsten hätte ich Tina mein fünftes Glas Bowle über ihr Bench-Fleece gekippt.
Es ist 2015 und Tina, die hier für viele weitere Tinas da draußen steht, hält Schwule anscheinend für sowas wie eine Gang. Für eine In-Clique, zu der ich gehöre. Vielleicht glaubt sie, dass man sich das aussucht, dass man irgendwann die Qual der Wahl hat, dass man in einem See fällt und sich für das eine oder das andere Ufer entscheidet. Tina findet Schwulsein also voll cool. Sie hat sicher schon viel darüber gelesen. Und ihre Freundin, die kennt anscheinend sogar einen anderen Typen aus meiner Gang.
Was ist denn bitte falsch? Ich möchte solche Gespräche nicht führen und ich möchte solche Fragen nicht gefragt werden. Ich finde es ja auch nicht „megacool“, dass sie heterosexuell ist. Mir ist es egal. Und ich wusste nicht, dass man schwul aussehen kann. Oder gibt es besondere Erkennungszeichen in meinem Gesicht? Vielleicht steht „gay“ auf meiner Stirn? Oder ist es eine ungeschriebene Regel, dass Skinny-Jeans ausschließlich von Schwulen getragen werden dürfen? Natürlich gibt es Klischees. Aber selbst wenn ich in weißer Röhre, Netzstoffoberteil und mit Frenchnails einen Cosmopolitan schlürfend alle Britney Spears Songtexte eurythmisch getanzt hätte: Was soll das?
Das geht raus an alle Tinas: Man sucht sich nicht aus, welches Geschlecht man liebt. Da gibt’s kein Gang-Casting, in dem derjenige mit den coolsten Moves Teil der Gay-Gang wird. Wenn ich es für nötig halte, dir von meinem Schwulsein zu berichten, dann werde ich das tun. Aber bitte frag mich nicht. Okay? Danke.
Und jetzt ein Glas Bowle.