Fluidity Edition

ICH HABE NULL BOCK, MICH ZU VERSTELLEN

Cinema Bizarre-Sänger Strify über Genderfluidität und den Weg zur eigenen Identität

In einer Welt, die sich ständig im Wandel befindet, ist die Vielfalt der menschlichen Identitäten ein faszinierendes und zutiefst relevantes Thema. Dieses Interview lädt ein zu einer Reise in die Gedanken und Erfahrungen der Berliner J-Rock-Ikone Strify, die ihre Genderfluidität und queere Identität erkundet und lebt. Durch Strifys persönliche Erzählungen und Perspektiven tauchen wir ein in die Welt der Selbstakzeptanz und Freiheit sowie in die Suche nach Verständnis in einer Gesellschaft, die noch immer Schwierigkeiten hat, queere Identitäten zu akzeptieren …


VANGARDIST: Strify, könntest du uns zu Beginn ein wenig über dich erzählen? Wie bist du zu der Person geworden, die du heute bist?

Strify: Meine Geschichte ist im Kern die von vielen queeren Personen, die in einer kleinen, konservativen Stadt geboren sind und von viel Unverständnis umgeben waren. Ich habe mich immer falsch gefühlt für das, was ich empfinde und wer ich bin, habe mir meine eigene kleine Welt geschaffen als Safe Space, um zu überleben, und habe das irgendwann hinter mir gelassen. Ich war ein sehr energisches Kind, und mein Vater konnte nicht gut damit umgehen. Das führte dazu, dass ich alles, was mich auszeichnete, erst einmal versteckte – bis ich Provokation als ein erstes Ventil für mich entdeckte. Rebellion in der Schule und zu Hause mit den Dingen, die ich sonst heimlich getan hatte – schwarzer Kajal, Goth, Visual Kei, Cosplay. Meine Obsession mit Musik, Popkultur und der Anime-/J-Rock-Szene in den 2000ern hat mir dann neue Wege gezeigt, und mit 18 bin ich mit meiner damaligen Band Cinema Bizarre nach Berlin gezogen. Der Teil mag sich zwar von anderen queeren Geschichten unterscheiden, aber ich glaube, dass viele queere Personen besondere Interessen und Talente entwickeln, um einen Platz in der Welt zu finden, an dem sie sich verstanden fühlen. Heute lebe ich noch immer in Berlin, habe auch als Solokünstler Musik gemacht, arbeite als Creator, Moderator und Speaker und bin als DJ Teil des queeren Nachtlebens.

V: Erzähl uns, wie du deine feminine Seite entdeckt hast und welche Erfahrungen du dabei in Bezug auf Genderfluidität gemacht hast!

S: Ich versuche für mich, genderstereotype Labels abzulegen und verstehe sie nur als Kategorien zur Kommunikation, um mich mitteilen zu können. Dabei denke ich wenig daran, ob diese oder jene Eigenschaft als männlich oder weiblich verstanden werden kann. Das war natürlich in meiner Jugend anders, da mir ständig Grenzen gesetzt wurden – Make-up sollte ich nicht tragen, damit durfte ich nicht spielen. Schon als Kind habe ich das nicht verstanden: Wenn ich es doch schön oder spannend fand, warum sollte ich es dann beiseite legen, nur weil jemand anderes der Meinung war, das sei nichts für mich? Zum Beispiel hatte ich mal ein Buch, auf dessen Rücken „Für Mädchen“ stand. Ich habe es aber geliebt und mit Papier und Tesa die Aufschrift überklebt, weil mich gestört hat, dass das Buch mir vorschreiben wollte, für welches Geschlecht die Geschichte war. Zugleich diente es dem Selbstschutz, da ich die Sorge hatte, mein Vater würde das Buch wegwerfen oder Klassenkameraden sich darüber lustig machen.

V: Gibt es Schlüsselmomente oder Erfahrungen, die deinen Weg geprägt haben?

S: Ich glaube, den ersten Zugang habe ich tatsächlich Manga und Anime zu verdanken. Dort waren in Shoujo-Serien, also Geschichten, die eher an ein weibliches Publikum gerichtet sind, oft ganz andere Bilder von Männlichkeit zu sehen, als ich sie sonst präsentiert bekam. Speziell in der Serie „Sailor Moon“ gab es, wenn auch sehr subtil, queere Beziehungen und sogar Charaktere, die männliche Popstars waren, aber durch eine magische Verwandlung dann weibliche Körper hatten. Als ich dann Visual Kei, ein J-Rock-Genre, entdecke, erlebte ich männliche Bands, deren Mitglieder Kleider und Make-up trugen. Auch viele westliche Künstler wie Bowie, Boy George, Manson und Brian Bolko habe ich sehr bewundert. Ich habe nur nicht verstanden, warum man als Rockstar so aussehen durfte, es für mich als Jungen in der Kleinstadt aber verboten war, dasselbe zu tun. Das hat mich dann selbst zu einem Rockstar gemacht. Heute, zwanzig Jahre später, gibt es zum Glück viel mehr Menschen, die ihren eigenen Weg wählen und dafür nicht unbedingt ein Rockstar werden müssen. Ich weiß manchmal selbst nicht, woher ich diese Resilienz hatte. Vielleicht aus dem Wissen, dass es Menschen vor mir gegeben hat, die ihren Weg gegangen sind und ihr Glück gefunden haben, obwohl mir die Welt lange sagte, das sei unmöglich.

V: Wie definierst du persönlich das Konzept von Gender?

S: Gender ist wie Sexualität fluide. Wenn man sich konservative Rollenbilder anschaut, glaube ich, dass es mehr Unterschiede zwischen den Individuen als zwischen den Geschlechtern gibt und viele Ideen einfach sehr von einer zu rigiden Einstellung geprägt sind. Ich glaube zwar, dass eine große Mehrheit sich weiterhin mit diesen Bildern identifizieren wird, aber ich denke auch, dass die Akzeptanz einer Fluidität viel mehr Menschen neue Freiheiten geben kann, die sie selbst gar nicht für möglich halten.

V: Wie hat deine Genderfluidität dein Dating-Leben in der LGBTQIA+ Community beeinflusst?

S: Mein Dating-Leben ist momentan quasi nicht existent. Eine Zeit lang war ich sehr androgyn und habe die Eigenschaften für Menschen gut erfüllt, die das anziehend fanden: Ich war viel schlanker, habe mir alle Haare am Körper rasiert, wollte Haut wie Alabaster und platinblonde Haare wie eine Elfe. Doch mein Körper hat sich verändert, und irgendwann hatte ich das Gefühl, ich stünde permanent im Kampf mit mir selbst. Aber ich habe ein neues Gefühl entwickelt und eine queere Einstellung zu meinem Körper entdeckt, die mich von Vorstellungen befreit hat, wie ich auszusehen habe. Dadurch habe ich aber auch die Erfahrung gemacht, dass ich für die einen oft zu feminin bin und für die anderen zu maskulin. Auf einem rein optischen Level. Viele wollen dann erst gar nichts mehr wissen, weil die erste Ebene schon nicht das erfüllt, was sie sich vorstellen. Wie oft Dates allein schon daran gescheitert sind, dass ich lange Haare habe und schwule Männer mir gesagt haben, sie könnten damit nichts anfangen … – it’s ridiculous. Ich habe aber null Bock, mich zu verstellen, um begehrenswert zu sein, und habe dann lieber keine Dates.

V: Wie gehst du mit Vorurteilen oder Missverständnissen um? Gibt es Strategien, die dir geholfen haben, solche Situationen zu bewältigen?

S: Mir ist das mittlerweile ziemlich egal, da ich nicht auf dieser Welt bin, um fremden Menschen etwas zu beweisen, und sie müssen mich auch nicht begreifen. Wenn ich das Gefühl habe, man steht einander respektvoll gegenüber, erkläre ich mich gerne – aber es war sehr befreiend zu erkennen, dass ich niemals die Kontrolle darüber haben werde, wie andere Menschen einen sehen, verstehen oder lesen. Der eigene Horizont ist eben sehr davon geprägt, wie man selbst durchs Leben zieht. Wenn die Leute mich sehen und ich sie verwirrt zurücklasse, ist mir das recht. So wurde die geregelte Gender-Idee der Person für einen Moment durcheinandergebracht. Let chaos rule! Dabei habe ich aber auch ein Umfeld, in dem ich mich nicht erklären muss, und falls es doch zu Situationen kommt, in denen ich mich nicht gut fühle, kann ich mich immer auf meine Freunde verlassen, die solche Momente mit mir aufarbeiten oder mir einfach das Gefühl geben, angekommen zu sein.

V: Gibt es Ratschläge, die du anderen Menschen geben würdest, um Selbstakzeptanz in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität zu fördern?

S: Ohne mehr über den Hintergrund einer Person zu wissen, tue ich mich schwer mit Ratschlägen, denn nicht jede:r hat die gleichen Möglichkeiten. Ich möchte auch niemanden in Gefahr bringen, wenn eventuell das Umfeld schwierig ist. Aber Gender und Identität sind auch immer eine Reise, die durch neue Erfahrungen neue Perspektiven bietet. Deswegen sage ich Leuten oft, dass sie sich nicht zu sehr unter Druck setzen sollten. Das Wichtigste ist immer, dass du dich wohl in deiner Haut fühlst und weißt, dass du niemandem Rechenschaft schuldig bist. Und niemand muss diese Reise heute alleine unternehmen, denn es gibt so viele Möglichkeiten, Anschluss zu finden. Eine Lehrerin meinte einmal zu mir, dass man über Umwege mehr lernt, als wenn man immer nur den vorgegebenen Weg geht. Das lässt sich universell auf viele Situationen im Leben übertragen.

V: Welche Fortschritte würdest du gerne in Bezug auf die Akzeptanz und Sichtbarkeit von diversen Identitäten in der Gesellschaft sehen? Gibt es bestimmte Veränderungen, die du dir für die Zukunft wünschst?

S: Ich begrüße sehr, was in den letzten zehn Jahren passiert ist. Dass es so viel Gegenwind, Fehlinformationen und Hass gegenüber queeren Menschen gibt, liegt auch daran, dass wir überall zu sehen sind und uns nicht mehr kleinmachen wollen. Jemand sagte vor kurzem zu mir: „Liberation is only real liberation if it upsets your oppressor“, und genau das passiert. Auf einer individuellen Ebene ist es aber manchmal auch schwer zu ertragen, man braucht eine dicke Haut. In der Community, die so divers ist wie die Gesellschaft selbst, wünsche ich mir manchmal wieder mehr Zusammenhalt und Raum für Fehler, da ich denke, dass wir am Ende des Tages alle das Gleiche wollen: gesehen und respektiert werden.


CREDITS

Editor

David Breza (he/him)

Interviewpartner:in
Strify (he/they) | Instagram: @strify

Photography

Eli X. Scherer

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