Zeitgeist

Oscar-Film “Tár”: Wenn der weiße Cis-Mann eine lesbische Frau ist

Sechs Oscarnominierungen und eine überragende schauspielerische Leistung: Das Psychodrama “Tár” des Amerikaners Todd Field zeigt, dass Machtstrukturen nicht zwingend geschlechtsabhängig sind und eine Pionierin in einer Männerdomäne auch von der Moderne eingeholt werden kann.

Die Star-Dirigentin Lydia Tár (Cate Blanchett) führt ein von ihren männlichen Kollegen kaum zu unterscheidendes Leben: als international begehrte Künstlerin ist sie an einem Tag Dozentin an der berühmten Julliard University in New York und am Tag darauf in ihrem Porsche am Weg zur Philharmonikerprobe in Berlin. Ihre Assistentin Francesca (Noémie Merlant), selbst Dirigentin, kocht ihr den Matcha und trägt die Tasche der Maestra hinterher. Und Társ Freundin Sharon (bewegend verletzlich: Nina Hoss), Konzertmeisterin an der Philharmonie, kümmert sich um das gemeinsame Kind Petra. Die Lebensumstände der lesbischen Künstlerin sind typische Attribute eines Mannes des Patriarchats – so auch die Schattenseiten. Die junge russische Cellistin Olga (gespielt von der tatsächlichen Cellistin Sophie Kauer) begünstigt Tár wohl nicht nur wegen ihres herausragenden Talents, sondern auch aufgrund der attraktiven Erscheinung. Zudem bringt ein Suizid ihre Karriere ins Wanken: die junge Dirigentin Krista Taylor aus Társ Förderprogramm nimmt sich verzweifelt das Leben, nachdem sie bei keinem Orchester eine Anstellung findet. Die Ermittlungen gegen Tár, die E-Mails an sämtliche Konzerthäuser der Welt versandt hatte, in denen sie Kristin Taylor als verrückt darstellte und ausdrücklich vor einem Engagement warnte, lösen schließlich einen Skandal um die Star-Dirigentin aus, dessen Ausmaß und Wichtigkeit sie völlig unterschätzt.

Eine sensationelle Hauptdarstellerin

Die Künstlerin mit Bilderbuchkarriere erscheint stets gefasst und ruhig. Sie schreit nicht, hat kaum Ausbrüche. Ihr Leben dreht sich einzig um das Dirigieren, Komponieren und um die philosophische Frage, warum überhaupt Musik gespielt wird. Damit das überhaupt möglich ist, braucht sie Macht: Menschen, wie die Assistentin oder die Lebenspartnerin, die ihr zuarbeiten. Und die Möglichkeit, Angestellte und Kolleg:innen beliebig auszutauschen. Schon zu Beginn – Lydia Tár ist bei einer großen Podiumsdiskussion zu ihrem Werk und Schaffen zu sehen – wird klar: sie gefällt sich in der Rolle der bewunderten Schöpferin. Selbst wenn Társ gesamte Karriere ins Wanken gerät, fragt man sich, ob sie sich dessen bewusst ist. Wie kann man so gefasst bleiben? Cate Blanchett zeigt die Dirigentin in einer überragenden Echtheit, voller Eloquenz und musikalischer Leidenschaft aber auch tiefer Sturheit und einer Arroganz, wie man sie von einigen Stars der Klassikszene kennt. In jedem Moment ist ihre tiefgreifende Rollenarbeit (sie lernte unter anderem Dirigat bei Natalie Murray Beale) spürbar.

Gustav Mahlers 5. Sinfonie soll Lydia Társ Arbeit mit der Berliner Philharmonie krönen. Fotos: Focus Feature

Regie und Musik, die Raum lassen

Der Film klettet sich durch alle Szenen hindurch an Tár. Wir bekommen ihre Sicht, ihr Leben als unsichtbare Assistent:innen zu sehen. Dabei verzichtet der Regisseur Todd Field auf klassische Stilmittel, die ohnehin kaum noch im modernen Film zu finden sind. Es gibt immer wieder kleinere Zeitsprünge, die undefiniert sind. Traumszenen durchbrechen den Handlungsstrang. Ein weiteres erfrischendes Merkmal des Films ist, dass offensichtliche Konsequenzen nicht explizit ausgesprochen werden, sondern sich durch den Kontext ergeben. Dass Tár im Skandal Anstellungen verliert, zeigt sich nicht durch eine direkte Kündigungsszene, sondern dadurch, dass sie am Ende ein unbedeutendes Orchester bei einer philippinischen Cosplay-Veranstaltung dirigiert. Die Filmmusik von Star-Komponistin und Grammy-Preisträgerin Hildur Guðnadóttir verhält sich überzeugend unauffällig, überlässt das Scheinwerferlicht lieber den beiden Werken, die Tár mit ihrem Orchester einstudiert: Gustav Mahlers 5. Sinfonie und Edward Elgars Cellokonzert in e-Moll.

Ein überaus sehenswerter Film

“Tár” stellt vielerlei Fragen über die Welt der klassischen Musik, die man für den Film ein wenig kennen sollte. Das Drama möchte über Demokratie und Autorität in Kunstinstitutionen sprechen und darüber, dass ein Hort der Kultur kein Bunker ist, in dem gesellschaftliche Probleme nur der Kunst wegen verschwinden. Der Film stellt auch Fragen über den Wert von Künstler:innen bzw. deren Werke im Vergleich zu deren abwegigen Meinungen, Fehltritten und Schattenseiten. Und er zeigt, dass eine Frau an der Spitze einer Institution oder Branche kein Garant für einen Zeitenwechsel ist. Aber auch, dass dies vor allem passiert, wenn sie genau den Weg geht, den die männlichen Vorgänger vor ihr eingetreten haben. Sexismus und Machtmissbrauch sind nicht einem Geschlecht vorbehalten, aber wiederholen sich unnötig, wenn man sich mit ihnen nicht auseinandersetzt.

Ob der Film in einer der sechs Kategorien, für die er nominiert ist, einen begehrten Oscar gewinnt, zeigt sich am 12. März bei der Verleihung. Er ist dann unter anderem für die großen Ehrungen im Rennen: Bester Film, Beste Regie und Beste Hauptdarstellerin.

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