Zeitgeist

Selma Lagerlöf, Thomas Mann & Co.: Queers mit Nobelpreis

Diese Woche werden in Oslo und Stockholm die Nobelpreise für Physik, Medizin, Literatur, Wirtschaft und Frieden vergeben. In 120 Jahren zählen über 800 Personen und mehrere Organisationen zum recht kleinen Kreis der Ausgezeichneten. Darunter befinden sich – Stand heute – jedoch nur 55 Frauen – und nur sieben queere Persönlichkeiten, die nicht selten die Hoffnung auf ein besseres Leben umtrieb.

Selma Lagerlöf – Uneindeutige Liebschaften

Die schwedische Schriftstellerin, die 1858 unweit der norwegischen Grenze geboren wurde, war 1909 die erste Frau, die den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam. Hierzulande ist sie vor allem für ihren mehrfach verfilmten Kinderbuchklassiker Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen bekannt. Was aber die wenigsten wissen: Lagerlöf pflegte Beziehungen zu anderen Frauen, die sich mindestens als ambivalent beschreiben lassen. Sowohl zur Schriftstellerin Sophie Elkan als auch zur Suffragette Valborg Olander hatte sie intimen Kontakt und engen, schwärmerischen Briefverkehr. Den beiden Freundinnen wird sogar eine Rivalität nachgesagt. Eine lesbische, nichtplatonische Beziehung mit Lagerlöf ist durchaus möglich. Sie schrieb beispielsweise 1902 an Olander, dass sie sich wünscht, alle Vernunft beiseite legen zu dürfen und der Männerwelt ihr Empfinden für sie zu offenbaren. Durch dieses große Tabu der damaligen Zeit gibt es allerdings keine stichhaltigeren Beweise, die eine sexuelle Beziehung belegen könnten.

Innigkeit auf Foto festgehalten: Selma Lagerlöf (li.) mit Sophie Elkan

Jacinto Benavente – Die bedenkliche “Schwuchtel”

Der Dramatiker mit fragwürdiger Einstellung zur Monarchie – die Republik lehnte er als “katastrophal” ab – gilt als Begründer des modernen spanischen Theaters. Er schrieb über 170 Werke, die von satirisch über psychologisch bis melodramatisch alle Bereiche des Dramas abdecken. 1922 wurde er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Seine Homosexualität verbarg er selbst im franquistischen Spanien, dem er wohlwollend gegenüber stand, nicht. Eine Anekdote erzählt, dass bei einem Spaziergang durch Madrid ein kräftiger Mann ihm nicht ausweichen wollte, da Benavente eine “Schwuchtel” sei. Dieser drehte die Beleidigung einfach um, sagte “Ich schon” und ging dem Mann aus dem Weg.

Thomas Mann – Der Klassiker

Der Schriftsteller zählt wohl zu den größten im deutschsprachigen Raum. Seine Werke wie Buddenbrooks, Der Zauberberg oder Tristan zählen zur Klassikerliteratur. 1929 wird er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Thomas Manns Briefe belegen eindeutig seine Homosexualität, die er scheinbar nie ausleben konnte. Er heiratete Katharina Pringsheim und zeugte sechs Kinder mit ihr. Drei von ihnen, Erika, Klaus und Golo Mann, teilen das sexuelle Dilemma ihres Vaters auf ähnliche Weise. In Briefen an Freunde findet Thomas Mann Ausdruck seiner Sexualität (“Daß reife Männlichkeit zarter und schöner sich zärtlich neigt, dieser nach jener die Arme streckt, darin finde ich nichts Unnatürliches.”), aber auch in seinen Werken. In einer seiner bekanntesten Novellen Tod in Venedig beispielsweise verliebt sich der reife Schriftsteller Aschenbach in den Jugendlichen Tadzio und fällt in einen wahnhaften Liebesrausch ohne jemals an seinen Schwarm herankommen zu können.

Thomas Mann (Mitte) lebte die Liebe zu Männern nur in seinen Werken aus. (Foto: Federico Patellani, CCA 4.0)

Jane Addams – Liebe bis in den Tod

Die amerikanische Soziologin und Aktivistin ist die einzige der Sieben, die den Nobelpreis nicht für Literatur verliehen bekam. Die überzeugte Pazifistin setzte sich unter anderem für die Besserstellung der afroamerikanischen Bevölkerung ein und für eine Verbesserung der Stellung der Frau. Sie schrieb theoretische Werke, in denen sie die absolute Gleichstellung der Frau als humanistisches Ziel festlegte und Konzerne für ihre Blockadehaltung gegen politische Veränderungen angriff. 1931 erhielt sie den Friedensnobelpreis. Sie führte eine über 40-jährige Beziehung mit der Philantropistin Mary Rozet Smith, die erst mit Smiths Tod 1934 endete. Addams, die einige Briefe selbst vernichtete, beschrieb die Beziehung auch ohne offiziellen Trauschein als eine “Ehe”.

Verbunden bis ans Lebensende: Jane Addams und Mary Rozet Smith, 1923

André Gide – Liebhaber der Jugend

Der französische Schriftsteller wird sich mit 24 Jahren seiner Homosexualität bewusst, die ihn verschreckt. Er verlobt sich mit seiner Cousine Madeleine Rondeaux und heiratet sie vom Fleck weg. In Paris trifft er auf Oscar Wilde, der weitaus offener Beziehungen und Affären mit Männern hatte. Und es kam, wie es kommen musste: er beginnt eine Affäre mit dem 30 Jahre jüngeren Marc Allégret. Als seine Frau davon erfährt, verbrennt sie Gides Liebesbriefe und trennt sich von ihm. In den 1920er Jahren outet sich André Gide schließlich öffentlich mit einer Autobiografie, in der er über Liebesbeziehungen zu Jugendlichen auf seinen Reisen spricht. Das Buch, das lange als Hauptwerk der schwulen Emanzipation galt, wird heute kritischer gesehen: seine Liebespartner waren nicht selten um die 14 Jahre alt. Darüber hinaus schrieb er eine ganze Reihe an Romanen und Erzählungen. Für seine “unerschrockene Wahrheitsliebe und psychologischem Scharfsinn” wurde er 1947 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt.

Patrick White – Der schwule Literaturstar im Outback

Auch der Australier Patrick White wurde 1973 mit dem höchsten Literaturpreis für seine psychologischen Romane und Erzählungen geehrt. Eines seiner Hauptwerke ist Riders in the Chariot, in dem vier fremde Personen durch eine gemeinsame religiöse Vision zueinander finden. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er für den britischen Nachrichtendienst arbeitete, zog er sich eine Zeit lang als Farmer ins australische Outback zurück. White hielt seine Vorliebe für Männer stets aus seinen Werken heraus. Dennoch wissen wir von den Affären des Schriftstellers, der 1990 verstarb. Seine erste Liebe galt einem Kommilitonen in Cambridge, wo White Literatur studierte. Jener war auf dem Weg, anglikanischer Priester zu werden, als er seine Liebe zu Männern entdeckte und eine Beziehung mit dem Australier begann.

Porträt von Patrick White, 1940er Jahre

Vincente Aleixandre – Die überschwängliche Leidenschaft

Der spanische Poet war in seinen Briefen an seinen Freund Carlos Bousoño mindestens genau so leidenschaftlich wie in seinen Gedichten, für die er 1977 den Nobelpreis erhielt. “LIEBE, was für eine Freude, sie mit all ihren Buchstaben zu schreiben und sie nicht Philosophie oder euphemistische Umschweife zu nennen, die die Seele drücken und zu Staub machen. Nun, ja: Ich liebe dich, siehst du? Ich habe es gesagt und der Himmel ist nicht gesunken. Ich bin glücklich”, schrieb er 1948 an seinen Carlitos, wie er Carlos nannte, als sie gerade zusammenkamen. 1949 widmete Bousoño Aleixandre seine gesamte Masterarbeit und blieb bis zu dessen Tod 1984 sein Partner. Bousoño wurde später ebenfalls erfolgreicher Poet, erhielt die höchsten spanischen Literaturpreise und starb 2015 im hohen Alter.

Header: Adam Baker, CCA 2.0

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