Zeitgeist

Dieser Bildband feiert orientalisches queeres Leben in Berlin

Normalerweise ist das Fotografieren zum Schutz der Anwesenden hier nicht gestattet: beim Event „Gayhane“ im Club SO36 in Berlin-Kreuzberg. Zu groß ist eigentlich die Gefahr, dass jemand unfreiwillig geoutet wird. Für den deutschen Fotografen Nicolaus Schmidt hat die Organisatorin Fatma Souad in den frühen 2000er Jahren eine Ausnahme gemacht. Entstanden sind intime Bilder, welche eine Welt zeigen, die nie dokumentiert werden sollte. Wir haben mit dem Künstler über den erst vor kurzem erschienenen Bildband gesprochen.

„Kosmos Gayhane“ – treffender könnte der Name für diese Party nicht sein. Im legendären SO36 versammelt sich tatsächlich ein ganzes Universum multinationaler Menschen. LGBTQIA+ Personen aus dem arabischen und türkischen Raum feiern hier in ihrem hane. Das steht in ihrer Sprache für Haus. Denn diese Feier ist ein wichtiger Safe Space für sie, die sich häufig mit den strengen Konventionen ihrer Familie konfrontiert sehen. Nicolaus Schmidt hat die Einzigartigkeit dieser Veranstaltung fünf Jahre lang in vielen Bildern festgehalten.

Vangardist: Alles, was sich im SO36 hinter verschlossenen Türen abspielt, bleibt im Verborgenen. Was machen die Fotografien im Band Kosmos Gayhane überhaupt erst sichtbar?

Nicolaus Schmidt: Gayhane hat als „HomOriental Dancefloor“ vor mehr als zwanzig Jahren einen bis dahin für unmöglich gehaltenen Spagat gewagt: einen Party-Raum für türkische, arabische und kurdische LGBTQIA+ zu schaffen. So etwas öffentlich zu machen, war damals gewagt und anfangs auch von Konflikten begleitet. Um Kiezmacker draußen zu halten, wurden Buttons verteilt, die alle sichtbar tragen sollten (z.B. „ben ibneyim“ – ich bin eine Schwuchtel). Herausgekommen ist eine eigene Welt, in der Menschen sich entspannt und frei in ihrer Identität präsentieren. Die Fotografien zeigen sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, manche völlig in sich selbst ruhend, andere unverkennbar auf der Suche nach einem anderen Ich. Es gibt die platinblonde Dragqueen mit schlecht rasierten Haaren auf der Brust und den kernigen Typen, den ich so auch auf einer Baustelle hätte fotografieren können. Die Fotografien fokussieren sich nicht auf oberflächliche Styles, sie konzentrieren sich auf die Menschen, ungefiltert, mit Schweiß auf der Stirn, mit verwischtem Makeup. Eine weitere Sequenz des Buches bringt Fotografien, die ich von den Shows auf der Bühne gemacht hatte.

Nicolaus Schmidt lebt seit 30 Jahren in Berlin. Vorher studierte er in Hamburg. (Foto: Christoph Radke)

Das klingt nach einer sehr einzigartigen Stimmung.

Auf den Gayhane-Partys wird zu einem Oriental-Asian-Mix dicht gedrängt getanzt, es ist sehr laut. Die Porträts vermitteln erstaunlicherweise etwas anderes. Das, was dahinter steht. Die Bilder strahlen eine Ruhe aus. In den Fotografien wird deutlich, dass Gayhane wirklich einen geschützten Raum bietet, in dem die Feiernden entspannt sie selbst sein können: queer, türkisch, arabisch, kurdisch und/oder berlinerisch.

Partynächte sind bekannt dafür, sehr flüchtige Momente zu sein. Dennoch sind die Bilder im Coffee-Table-Book keine reine Dokumentation des nächtlichen Geschehens. Auf welche Weise überschreiten die Fotografien Grenzen?

Gayhane hat sehr viel Energie, ist Bewegung. Zum Schutz der Anwesenden darf eigentlich nicht fotografiert werden. Diese Porträts sind mit Einwilligung der Teilnehmenden vor einer Notausgangstür mitten im Gedränge entstanden – mit einer improvisierten mobilen Blitzanlage. Es liefen Leute durchs Bild, die Fotos mussten schnell entstehen. Eigentümlicherweise konnten wir uns so aufeinander konzentrieren, sodass all dies ausgeklammert werden konnte. Wir haben in der Situation den realen Raum verlassen, die Musik, das flackernde Licht. Die Porträts konzentrieren sich zu hundert Prozent auf den Menschen, die jeweilige Persönlichkeit.

Welche Fragen lässt der nun vorliegende Bildband für Betrachter:innen bewusst offen?

Die orientalisch-asiatische Musik und der Tanz lassen sich ja nicht in Fotografien einfangen, zumal das Fotografieren auf der Tanzfläche nicht erlaubt ist. Für all dies steht die von mir entwickelte, orientalisch anmutende Schrift. Die Schriftzeichen orientieren sich an mehreren Schriften aus dem Kulturraum zwischen Bosporus und Hindukusch (u.a. Urdu, alte Formen des Aramäischen bis hin zu Arabisch. Dass dies gelungen ist, hat mir vor einigen Jahren die Kuratorin Beral Madra in Istanbul bestätigt. Sie meinte, die Schrift erinnere sie an solche, die sie bei Ausgrabungen in ihrer Studienzeit gesehen hat.) Die Schriftzeichen basieren auf stark reduzierten Zeichnungen menschlicher Körper. Die Schrift nimmt damit die Körperlichkeit der Tanzenden auf. Beim Blättern des Buches müssen die Leser:innen Fotografien und Schriftzeichen zusammenbringen, um sich Gayhane als Ganzes zu erschließen. 

Nikolaus Schmidt: Kosmos Gayhane
24 x 29,5 cm, Mappe mit Multiple und Magazin
Veröffentlicht im Jänner 2021
Hard- und Softcover
Multiple: 96 Seiten | Magazin: 72 Seiten
99€

Erhältlich bei der Kunststiftung K52 und beim Verlag Art In Flow.

 

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