Taboo Edition

Operationen die Traumata verursachen – Inter*-Aktivist:in Alex Jürgen im Interview

Wofür steht das I in LGBTQIA+? Für Inter*-Menschen oder Menschen mit alternativen Geschlechtsmerkmalen. Sie machen etwa 1,7 % der österreichischen Bevölkerung aus. Viele von ihnen müssen traumatische Operationen im frühen Kindesalter durchleiden. So auch Künstler:in und Aktivist:in Alex Jürgen. Ein Gespräch über den Kampf um Gleichberechtigung und was sich in der Gesellschaft ändern muss, damit intergeschlechtliche Menschen endlich befreit leben können. 

Alex wurde 1976 geboren, zu einer Zeit, in der viele Inter*-Kinder operiert wurden – und ihnen so ein Geschlecht aufgezwungen wurde. Alex Jürgen wurde als Bub großgezogen, bis die Ärzt:innen entschieden, dass der Penis zu klein wäre, um heterosexuellen Geschlechtsverkehr haben zu können. Sie überzeugten die Eltern: mit sechs Jahren die Penisamputation, mit zehn Jahren die Hodenamputation, in der Pubertät dann eine Hormontherapie und schließlich, mit 15, die Vaginalplastik.

Im Jahr 2004 hörte Alex in einer Radiosendung eine 17-Jährige sagen, sie wolle sich die Nase operieren lassen, weil sie sich mit ihrer unwohl fühle. Kurzerhand rief Alex bei der Show an und erzählte von schrecklichen Operationen, zu denen Inter*-Kinder gezwungen werden. Alles nur, um einer bestimmten Norm zu entsprechen.

Den Anruf hört auch Elisabeth Scharang, und Alex und sie beschließen daraufhin, ein Filmprojekt über Alex und Inter*-Identitäten zu starten: Tintenfischalarm. Der Film endet mit der Mastektomie von Alex und der Entscheidung, als Mann zu leben. Heute identifiziert sich Alex weder als Mann noch Frau, sondern einfach als inter*. Nach Jahren aktivistischer Arbeit kann Alex auf einige Erfolge zurückblicken: Etwa die Mitbegründung von VIMÖ, dem Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreichs. Oder darauf, dass Alex’ Pass nun im Haus der Geschichte ausgestellt wird – als erster Pass mit der Eintragung inter*.

Alex Jürgen

Was macht das mit der Psyche, wenn man so jung eine so
gravierende Operation über sich ergehen lassen muss?

Alex: Das hinterlässt so viele Schäden, dass man es sich gar nicht vorstellen kann. Im Krankenhaus muss ein intergeschlechtliches Kind sich ausziehen, sich von den neugierigen Ärzt:innen zwischen die Beine starren und Fotos von sich machen lassen. Das Kind bekommt das Gefühl, es wäre ein Freak. So etwas darf keinem Kind vermittelt werden. Ich bin schwer geschädigt durch diese Erlebnisse, gehe nicht zu Ärzt:innen, selbst wenn es mir schlecht geht. Ich kann Genitalbereich-Untersuchungen nur unter Vollnarkose aushalten, von dem ganzen Eingriff will ich nichts mitbekommen. 

Wie können Jugendliche damit umgehen, wo können sie sich Hilfe holen?

A: Selbsthilfevereine – das war mein Wow-Erlebnis. Auf die Treffen zu gehen und zu sehen: Das sind ganz normale Leute. Zu wissen, dass man nicht allein ist, all die Geschichten zu hören. Früher sind alle Inter*-Kinder feminisiert worden. Es gibt noch nicht so lange die Möglichkeit für Kinder, auch männlich aufzuwachsen. Ich kann Selbsthilfegruppen nur empfehlen, vor allem Kindern und Jugendlichen. Man sieht, man ist kein Freak. In Deutschland gibt’s einen riesigen Austausch mit Inter*-Personen jeden Alters, aber auch mit Familienmitgliedern von Inter*-Kindern. In Österreich existiert der Verein VIMÖ für Betroffene und Eltern, und auch hier werden Gruppentreffen abgehalten.

Alex, was unterstützt Inter*-Personen am meisten, was brauchen sie?

A: Vorbilder. Mavi Phoenix in Österreich, und Elliot Page, da lacht mein Herz. Die sind zwar nicht inter*, aber das ist immerhin etwas. Hätte ich solche Inspirationen in meinem Leben gehabt, dann hätte ich nicht nur in zwei binäre Richtungen gesucht. Wenn ich mehr Auswahl gehabt hätte, hätte ich mich früher gefunden. Es braucht Vorbilder, auch im Fernsehen: Diese Ladymen in Thailand hat es schon vor 20 Jahren ganz normal in Serien gegeben. Im ORF hingegen wird etwas gezeigt wie “Two and a Half Men”, wo Frauen stark degradiert werden. Aber so was wie Modern Family muss her. Da geht’s um Diversität, nicht um Inter*-Personen, aber unterschiedliche Lebensrealitäten. Ich hab jeden Sonntag Lindenstraße geschaut. Ich habe denen auch geschrieben, ob sie wegen des Zeitgeschehens nicht auch einmal einen Inter*-Charakter einbauen wollen, habe mich sogar selbst angeboten. Leider kam keine Antwort. Repräsentation und Aufklärung, das braucht es. In der Schule lernt man, dass es bei den Schnecken Zwitter gibt, aber dass das auch bei Menschen vorkommt, sagt einem keiner. Jugendliche haben es besonders schwer. Wir alle wissen, wie es in der Schule zugeht und wie leicht man gemobbt wird. Aufklärung ist da das Wichtigste. Das ist auch die Aufgabe als Eltern, dass sie dem Kind mitgeben, dass es etwas Besonderes ist und nicht eklig. Dass sie nicht sagen: “Erzähl das niemandem” – was macht denn das mit Menschen?

Du bist selbst für viele ein Vorbild. Wie fühlst du dich damit?

A: Ich wär’s gern, deswegen passe ich immer auf, dass mich die Leute nicht wirklich kennenlernen und sehen, wie schlecht es mir manchmal geht. Aber ich hätte gerne, dass mich andere Inter*-Personen sehen und sich denken, dass, wenn ich es geschafft habe, sie es auch schaffen können. Ich möchte, dass sich auch andere trauen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich muss mich nicht mehr verstellen, nicht aufpassen, was ich sage. Ich hab nicht leicht Vertrauen zu Menschen, aber mir ist’s auch egal, was andere denken. Das ist befreiend. Manchmal gibt’s Krisen, wie wenn ich auf einer Feier bin und früher gehe, weil sich keine guten Gespräche ergeben haben, und am nächsten Tag kommen Freund:innen zu mir und sagen: „Alle haben gefragt, als du weg warst, ist das ein Er oder eine Sie?“ Dann denke ich mir oft nur, hätten sie mich direkt gefragt, dann hätten wir die ganze Nacht reden können. Aber stattdessen wird man ausgeschlossen und im Nachhinein wird über einen gesprochen. In Indien wurde ich nie von Tourist:innen angesprochen, aber oft von Inder:innen, und das waren so schöne Offenbarungen. Da gab es mehr Entgegenkommen, auch weil es ja die Hijra gibt – Trans- und Inter*-Personen, die als drittes Geschlecht angesehen werden.


„Meinen Eltern war ja gesagt worden,
dass man die Operationen machen müsse,
damit ich kein Problem haben würde,
eine Geschlechterrolle zu finden.“


Hast du dich selbst gefunden, nachdem du dich als inter* geoutet hast? Und gibt es noch weitere Aufgaben im Kampf für Gleichberechtigung?

A: Meinen Eltern war ja gesagt worden, dass man die Operationen machen müsse, damit ich kein Problem haben würde, eine Geschlechterrolle zu finden. Stattdessen habe ich zeitweise sogar zu Drogen gegriffen, weil es mir so schlecht ging! Meine Identifikationsprobleme, im Fachjargon ,Geschlechtsdysphorie’ genannt, sind jedoch erst weggegangen, als ich mir mein eigenes Geschlecht erstellt habe.

Brauchen wir Geschlechter als Kategorien überhaupt noch?

A: Zum Kindermachen anscheinend noch, oder? Aber ansonsten? Ich muss weder ein Mann noch eine Frau sein, um Sex haben zu können. Ich muss weder Mann noch Frau sein, um einen bestimmten Beruf ausüben zu können. Es gibt keine Grenzen mehr. Früher war das ganz anders: Da hieß es, als Frau dürfe man nicht Mechanikerin werden, oder ein Mann sollte nicht Friseur werden. Aber ich seh das heute gar nicht mehr so arg, außer vielleicht beim Papst, da kann man als Frau vielleicht Probleme haben, das zu werden. Ich sage immer: Wenn mich jemand als Herr anspricht, dann ist das ein Einbruch in meine Privatsphäre. Denn was bildet man sich ein, mich darauf anreden zu können, was ich zwischen den Beinen hab? 


„Inter* zu sein, ist keine sexuelle Ausrichtung.
Es ist, was ich bin. Das verwirrt. Und vielleicht ist das
der Grund, warum man so wenig hört.“


Warum wird Inter*sein selbst in Zusammenhang mit der
LGBTQIA+ Community noch immer so tabuisiert?

A: Inter* zu sein, ist keine sexuelle Ausrichtung. Es ist, was ich bin. Das verwirrt. Und vielleicht ist das der Grund, warum man so wenig hört. Inter* lässt sich sehr schwer kategorisieren. Es gibt inter*, die schwul leben, es gibt inter*, die bi leben. Es gibt Inter*-Menschen, die einen männlichen Chromosomensatz haben, aber weiblich aussehen, mit einer Frau zusammen sind und als inter* gelesen werden, aber eigentlich hetero sind.

Überlegst du manchmal in Bezug auf Partnerschaften und Sexpartner:innen, ob die überhaupt gecheckt haben, was in dir vorgegangen ist?

A: Ich hab mir manchmal gedacht: Wie blöd seid ihr eigentlich? Ich hab gar keinen Kitzler und keine inneren Schamlippen, ist euch das noch nie aufgefallen? Ein Ex-Freund hat mal zu mir gesagt, ich hätte die schönste Vulva, die er jemals gesehen hat – und ich dachte mir nur: Hast du noch nie eine andere gesehen? Ich hatte drei Jahre eine Beziehung mit einem anderen Mann, der höchst homophob war. Oft denke ich daran, was passieren würde, wenn der mich heute sehen würde. Eigentlich muss er sich ja eingestehen, dass er in einer schwulen Beziehung war. Ich hab XY-Chromosome, also war er schwul. Ich weiß nicht, wie er reagieren würde. Für mich ist Geschlecht keine Grundlage für irgendwas.


„Manchmal hab ich Panik, weil wir so weit
weg sind vom Inklusions-Denken. Ich glaube,
das ist uns komplett abhanden gekommen.
Wir vergessen ständig, dass es ein
Miteinander geben muss.“


Was muss sich in unserer Gesellschaft ändern? Was wären die dringendsten Schritte?

A: Die Zwangsnormierungen müssen aufhören. Manchmal hab ich Panik, weil wir so weit weg sind vom Inklusions-Denken. Ich glaube, das ist uns komplett abhanden gekommen. Wir vergessen ständig, dass es ein Miteinander geben muss. Wir müssen Menschen wieder als Menschen sehen und nicht vorgefertigte Meinungen reproduzieren. Zusammenhalten, in jeglicher Hinsicht. Das Schubladendenken wegkriegen. Das kostet halt Zeit, denn dafür muss man Menschen kennenlernen und sie nicht nur nach ihrem Aussehen beurteilen. Das Problem ist: Diese Zeit will sich kaum jemand nehmen.

Hast du dich selbst gefunden, nachdem du dich als inter* geoutet hast?
Und gibt es noch weitere Aufgaben im Kampf für Gleichberechtigung?

A: Meine Reise ist noch nicht beendet. Ich suche immer weiter nach Dingen, für die es sich zu kämpfen lohnt. Jetzt habe ich das mit dem Pass geschafft, aber bis diese erzwungenen Operationen nicht gestoppt werden, gibt’s kein Aufhören. Aber auch für mich persönlich habe ich noch Visionen. Wenn ich zum Beispiel daran denke, dass mein Pass im Haus der Geschichte ausgestellt wird, denk ich daran, wie in 50 Jahren eine Schulklasse davor steht und sagt: „Wahnsinn, die haben früher nur zwei Geschlechter gekannt!“

Wer intergeschlechtliche Menschen unterstützen möchte,
kann dies beim Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreichs tun:

www.vimoe.at



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