Wir befinden uns in einem gesellschaftlichen Wandel, der besonders durch technische Neuheiten beschleunigt wird, die wiederum unsere Kommunikation maßgeblich beeinflussen. Gerade weil die Welt immer näher zusammenrückt und verschiedene Kulturen leichter in Kontakt treten können, treffen verschiedene Vorstellungen von Tabus aufeinander. Da können natürlich eine Menge Missverständnisse und Fettnäpfchen entstehen. Wäre es nicht einmal interessant, sich auszumalen, wie eine Welt komplett ohne Tabus aussehen würde? Eine schwierige Vorstellung – aber vorausgesetzt, das ginge: Würden wir dann nicht alle ganz offen miteinander über alles reden können?
Liebeskummer in der Bim
Neulich unterhielt ich mich beim Spazierengehen mit einer Freundin über die Liebesbeziehung eines befreundeten Pärchens. Als wir in die gerammelt volle Straßenbahn stiegen und unser Gespräch fortsetzten, empfand ich die Situation nach einer Weile als unangenehm. Ich wollte herausfinden, was mit meinem Unbehagen passieren würde, und so sprachen wir ganz einfach weiter. Viele in der Bim quittierten unsere Unterhaltung mit skeptischen Blicken, und ich konnte förmlich spüren, wie sie mir mitzuteilen versuchten: Interessant, was ihr hier erzählt, aber sowas macht man nicht in der Öffentlichkeit. Offensichtlich waren wir auf ein Tabu gestoßen. Der Begriff Tabu stammt vom Wort tapu ab, das auf den Pazifischen Inseln im 18. Jahrhundert von europäischen Seefahrer:innen zum ersten Mal registriert wurde. Dort hielt das tapu die Gesellschaft zusammen, indem es verbotene sowie heilige Verhaltensweisen und Dinge definierte. Bis heute haben Tabus eine solche Funktion, auch wenn unsere Gesellschaft gerne als enthemmt und tabulos dargestellt wird. Die Tabuforscherin Sabine Krajewski meint dazu, dass Sexualität, Homosexualität, Tod, psychische Erkrankungen und Religion die fünf zentralen Themen sind, die auch wir noch immer mit Tabus belegen. Wodurch zeichnen sich eigentlich Tabus in unserem Alltag aus?
“Wo läge eigentlich das Problem, wenn andere wüssten, wie viel man verdient?“
Tabulos ist nicht gesetzlos
Tabus wirken unterschwellig, weil sie nicht – wie Gesetze – aufgeschrieben oder gar begründet werden müssen. Tabulos heißt somit nicht gesetzlos. Dass für einen Tag im Jahr alle Gesetze außer Kraft gesetzt und angestaute Aggressionen in jeglicher Form von Gewalt herausgelassen werden, wie bei The Purge, ist also keine passende Vorstellung für eine tabulose Welt. Vielmehr wären die ungeschriebenen Gesetze verschwunden, die dazu führen, dass Menschen über bestimmte Themen nicht reden möchten. Vielleicht könnten in einer tabulosen Welt Menschen, die beispielsweise an Darmkrankheiten leiden, offener über ihr Befinden sprechen. Geld ist ein weiteres Beispiel, das etwa in meinem Bekanntenkreis, besonders von Älteren, nicht gerne angesprochen wird, weil man das einfach nicht macht. „Wie viel Geld verdienst du eigentlich im Monat?“ – „Genug.“ Wo läge eigentlich das Problem, wenn andere wüssten, wie viel man verdient? Es könnte daran liegen, dass wir nichts über die Motive der fragenden Person wissen. Ist sie neidisch? Will sie meinen PayPal-Account hacken und sich etwas von meinem Geld holen? Wenn es also keine Tabus mehr gäbe, könnte man einfach jede:n in jeder Situation nach etwas fragen. Irgendwie auch eine nervige Vorstellung, oder?
Einblicke in die Tabulosigkeit
Eine Welt ohne Tabus ist zum Teil auf Social Media zu sehen. Dort werden Inhalte geteilt, die vielleicht in einem anderen Kontext nicht aufs Tapet kommen würden. Wie tabuloses Kommunizieren aussieht, wird etwa beim Teilen von Inhalten und beim entsprechenden Kommentieren deutlich. Es gibt zahlreiche Beispiele von Shitstorms, wo (un-)berechtigte Kritik an einem Beitrag in blanken Hass umschlägt und Menschen dadurch persönlich angegriffen werden. Wenn beispielsweise der Kolumnistin Margarete Stokowski nach Veröffentlichungen einiger ihrer Texte die widerlichsten Gewalttaten angedroht werden, ist auch das ein Beispiel für einen tabulosen Umgang mit anderen Menschen. Tabuforscherin Sabine Krajewski sagt dazu, dass online den Menschen das Bewusstsein abhanden komme, wie man miteinander redet. In der Bim hat uns niemand irgendwelche Tipps oder Kommentare an den Kopf geworfen, obwohl oder gerade weil wir die anderen nicht kannten und sie uns ebensowenig. Vielleicht lag es daran, dass bei einem Gespräch im real life die Hemmschwelle größer ist, sich selbst zu Wort zu melden. Im anonymen Netz sieht das wiederum anders aus: Unterhaltungen können schnell eskalieren, Tabus leicht gebrochen und Menschen dadurch verletzt werden.
“Durch Tabus können Personengruppen geschützt werden, indem bestimmte Dinge nicht thematisiert
oder getan werden.“
Wen schützen Tabus?
Wenn man sich eine Welt ohne Tabus vorstellen möchte, sollte man sich stets bewusst machen, wer durch Tabus beziehungsweise deren Wegfallen geschützt wird und wer nicht. Menstruation ist da ein gutes Beispiel. Das entsprechende Tabu schützt nicht die Menstruierenden, sondern es hindert die Nicht-Menstruierenden daran, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und es als normalen körperlichen Vorgang anzuerkennen, dem die Hälfte der Menschheit im Laufe ihres Lebens ausgesetzt ist. Durch Tabus können Personengruppen geschützt werden, indem bestimmte Dinge nicht thematisiert oder getan werden. Ein Tabu, das die Betroffenen schützt, wäre etwa, in Anwesenheit von Menschen mit Essstörungen nicht über deren Körper zu sprechen. Das wäre unnötig verletzend und würde rein gar nichts nützen. Klar ist: Tabus sind einem stetigen Wandel unterworfen. Manche verschwinden, andere kommen neu dazu. Manche grenzen Menschen aus, andere wiederum schützen sie. Namhafte Sozialwissenschaftler:innen meinen, dass menschliche Gemeinschaften solche subtilen Verhaltensregeln brauchen. Wahrscheinlich ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, welche Tabus wem nützen, um dann zu entscheiden, wie sinnvoll sie wirklich sind. Es bleibt jedenfalls spannend, wohin sich unsere Gesellschaft in Bezug auf ihre Tabus entwickelt. Vielleicht kommentiert ja demnächst jemand in der Bim meine Beziehungstipps.