Berlin, 1956: Der Krieg liegt einige Jahre zurück, aber in den Köpfen der Menschen stehen viele Aufräumarbeiten noch bevor. Prüde Normen und veraltete Tabus bestimmen das Leben der konservativen Tanzschulbesitzerin Caterina Schöllack und ihrer drei Töchter im „heiratsfähigen Alter“. Im Gegensatz zu ihren Schwestern will Monika sich aber nicht unterordnen. Die Rock’n’Roll-Szene bietet ihr dabei die Chance, sich selbst und ihre unkonventionelle Sexualität kennenzulernen. Mit dieser Geschichte hat uns die dreiteilige ZDF-Fernsehserie Ku’damm 56 zurück in eine Welt der Spießigkeit entführt, die uns heute absurd erscheint – doch immer noch nicht ganz überwunden ist. Die beiden Rosenstolz-Stars und Songschreiber Peter Plate und Ulf Leo Sommer haben aus der Erfolgsserie jetzt eine Musical-Version geschaffen. Wir haben die Beiden zum Interview getroffen und mit ihnen über Tabus in den 50er Jahren und die progressive Kraft von Musik und Tanz geplaudert.
Danke, dass wir euch so kurz vor der Musical-Premiere noch treffen können!
Ist alles soweit fertig? Seid ihr aufgeregt?
Peter: Uns tröstet immer dieser Spruch vom Broadway: „Ein Musical ist nie fertig!“ Ab Montag kommen alle zusammen, es geht so richtig los und die Spannung steigt
Ulf: Wir sind irre aufgeregt. Wir haben sozusagen die „Unruhe vor dem Sturm“.
Von wem stammt denn überhaupt die Idee, aus der Serie ein Musical zu machen?
U: Die Idee dazu hatte die Autorin der Serie, Annette Hess. Übers Telefon kam dann eine vorsichtige Anfrage, und Peter hat sofort „Ja, das machen wir!“ geschrien – ohne mich überhaupt zu fragen (lacht). Aber wir waren ja beide Riesen-Fans von Ku’damm 56 und haben uns immer wieder darüber ausgetauscht. Die Charaktere, Caterina und ihre Töchter, haben wir geliebt!
Die Serie stellt Musik und Tanz ohnehin in den Mittelpunkt. Habt ihr euch da beim Ansehen bereits gedacht, dass daraus ein Musical entstehen könnte?
U: Dass eine der Hauptprotagonistinnen über Musik und Tanz zu sich selbst findet, ist natürlich ein guter Stoff für ein Musical. Da hätten wir auch draufkommen können! Sind wir aber nicht.
P: Oft sieht man etwas nicht, wenn man direkt davor steht. Nachdem ich aber so intuitiv ja gesagt hatte, war mir klar, dass das funktionieren würde. Ich habe mir das Projekt allerdings mit Annette Hess zusammen als Team gewünscht. Wir hatten da am Anfang das Problem, dass sie sich noch gar nicht so viel mit Musicals befasst hatte. Also sind wir nach London geflogen, haben uns unzählige Musicals angesehen und bemerkt: Ok, hier sind wir auf einer Wellenlänge. Daraufhin hat sie das Libretto geschrieben.
Es existieren ja bereits unzählige Rock’n’Roll-Hits, die man in so einem Musical verwenden könnte. Habt ihr welche umgeschrieben?
U: Man hätte ein Jukebox-Musical machen können, so dass es beispielsweise klingt wie Peter Kraus, der zur damaligen Zeit ein großer Star war. Das hätte ich aber gar nicht so spannend gefunden. Man muss auch die Handlung vorantreiben und die inneren Monologe darstellen. Das ist mit so einer 50er-Hitmusik schwer möglich.
P: Genau. Die Frage hat sich für uns gar nicht gestellt. Vor den alten Songs haben wir großen Respekt, und indem man sie umschreibt, kann man sie nicht besser machen. In diesem Punkt wurde unsere Entscheidung auch sofort akzeptiert. Das Geile an einem Musical ist ja, dass man den einzelnen Charakteren Farben geben darf. Da fragt man sich beim Schreiben immer, wie singt die Mutter, wie singt Monika usw. Das war unsere Challenge.
„Es ist keine Entscheidung, ob man cis, trans, nichtbinär etc. ist. Dementsprechend kann man sich auch nicht umentscheiden.“
In einem Musical hat man ganz andere Voraussetzungen als im Film. Wie konntet ihr die Charaktere und die Emotionen der Figuren so herausarbeiten,
dass alles ein stimmiges Bild ergibt?
U: Tja, der erste Song, den wir geschrieben haben, war „Monika“. Danach waren wir wirklich erleichtert, weil der die Richtung vorgeben sollte. Ab da wussten wir, dass es möglich ist, eine Mischung aus 50er Jahre und unserem Popverständnis zusammenzumixen und daraus den Stil der Musik für das Musical zu erfinden. So konnten wir uns dann Stück für Stück den Charakteren annähern. Und es war dann auch gar nicht schwierig, weil wir in die Figuren so verliebt waren.
Das Schöne an den Figuren dieser Serie ist, dass sie so lebendig und greifbar wirken. Man kann ihre Emotionen leicht nachvollziehen. Könnt ihr euch mit den Charakteren selbst identifizieren?
U: Wir lieben beide diese ausgeflippten, starken, widersprüchlichen Frauenfiguren. Das sind für uns die interessantesten Projektionsflächen. Das war auch schon bei Rosenstolz so. Diese ein bisschen „divaesken“ Larger-than-life-Frauen. Der Stoff ist wie für uns gemacht.
P: Das Tolle daran ist auch, dass es ein Denkmal ist, das man den Frauen setzt, die Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und versucht haben, sich in diesem schlimmen Leben wieder zurecht zu finden. Das gilt genauso für Caterina, die strenge Mutter, die ja auch noch traumatisiert war. Ihre braune Gesinnung kann ich natürlich nicht entschuldigen, aber vieles andere kann ich nachvollziehen. Ihre Härte rührt beispielsweise daher, dass sie die Verantwortung für ihre drei Töchter alleine hat. Das nimmt ihre ganze Kraft in Anspruch, so dass am Ende keine spürbare Liebe mehr übrig ist. Sie wurde ja selbst von ihren Eltern soldatisch aufgezogen. Sie kennt nur, dass eine Frau funktionieren muss und dass sich eine Frau sogar damit abfinden muss, wenn sie vergewaltigt wird. Das Beste daraus machen und allein ins Kissen weinen – das ist ihr Zugang.
„Wenn man bedenkt, was in Polen passiert, weiß man, dass mühsam erkämpfte Rechte wieder verloren gehen können.“
Wenn wir uns heute eine Serie wie Ku’damm 56 ansehen, dann kommen uns viele Umgangsformen und gesellschaftliche Tabus von damals absurd vor. Hat euch daran etwas erschreckt?
P: Ehrlich gesagt, sehr viel. Es ist auch gut, dass einem das alles nochmal vor Augen geführt wird. Dass beispielsweise in Westdeutschland damals zwei Männer oder zwei Frauen keinen gemeinsamen Mietvertrag bekommen hätten. Oder dass Homosexualität als Krankheit geführt wurde. Viele homosexuelle Menschen dachten damals tatsächlich, sie seien krank.
U: Ganz erschreckend sind auch die Selbstmordraten von homosexuellen Menschen, die ja heute immer noch höher sind als der Durchschnitt, aber damals ganz besonders. Da ist man natürlich dankbar, dass man heute lebt. Und das ist etwas, worauf man so Acht geben muss, denn wenn man bedenkt, was in Polen passiert, weiß man, dass mühsam erkämpfte Rechte wieder verloren gehen können. So ein Kernstück ist auch die Vergewaltigung von Monika. Joachim Frank hat sie vergewaltigt, und ihre Mutter geht zu seinem Vater. Der rechtfertigt alles damit, dass er sagt, die hatte ja roten Lippenstift, also wollte dieses Mädel das ja. Sie hat das doch provoziert! Es gibt auch heute noch Songtexte, wo Mädchen als Schlampen dargestellt werden. Das ist natürlich besorgniserregend und zeigt auch, wie relevant das Stück ist, das Annette geschrieben hat.
Das Abschütteln von alten Tabus und das längst überfällig gewordene Erlangen von Rechten und Freiheiten ist somit Kern dieser Geschichte. Welche Rolle übernehmen dabei Musik und Tanz?
U: Ich würde sagen, Musik und Tanz sind immer auch Ausdruck von Seelenleben. Rock’n’Roll war damals eine Revolution. Das kann man sich heute schwer vorstellen, weil diese Musik für uns schon fast wieder konservativ ist. Es gab aber auch die Hippie-Bewegung oder den Punk in den 70er Jahren, und da ging es immer wieder um Identifikation und um Abgrenzung von den älteren Generationen. Aber auch die Ausgrenzung von Minderheiten lauert in der Musik: Im Reggae ist Homophobie zum Beispiel so verbreitet, dass mir die Ohren schlackern.
P: Das ist ein absolut aktuelles Thema. Im Gesellschaftstanz sind immer noch alle separiert. Es gibt Herren- oder Damenwahl, daneben schwule oder lesbische Tanzgruppen. Da frage ich mich: Warum tanzen wir denn nicht alle zusammen? Wäre das nicht schöner? Also ist, wenn wir schon so philosophisch darüber reden, das Tanzen auch ein Spiegelbild für die Gesellschaft, und da gibt es noch viel zu tun.
U: Über diese Verhaltensregeln beim Gesellschaftstanz sollte doch jede moderne Frau nur mehr lachen können! Dass sie sich da wie ein kleines Kätzchen auffordern lassen muss! Da hat sich meiner Meinung nach auch seit dem Rock’n’Roll vieles getan. Jetzt kann sie auch auf Tischen tanzen, und das selbstbestimmt, nur wenn sie Lust hat – nicht für die Männer.
„Menschen, die es nie in ernstzunehmende globale Kunsthallen schaffen, überholen etablierte Künstler:innen nun mit ihren Follower:innen.“
ie Mutter der Protagonistin, Caterina Schöllack, hat genau davor große Angst und setzt auf vermeintlich „gute, alte, deutsche Werte“, keinesfalls will sie in ihrer Tanzschule „Negermusik“ hören. Habt ihr jemals die Erfahrung gemacht, dass sich jemand von eurer Musik bedroht fühlte?
P: Ja. In den 90er Jahren haben mir Rundfunkredakteur:innen tatsächlich gesagt, diese schwule Musik wollen sie nicht im Radio spielen. Damals haben sie sich sogar noch getraut, mir das schriftlich zu geben. Da frage ich mich, was denn – abgesehen von explizit schwulen Themen – „schwule Musik“ sein soll. Das war damals natürlich im höchsten Maße diskriminierend.
U: In einem Song, den wir mit Sarah Connor geschrieben haben, lautet die erste Zeile „Vincent kriegt keinen hoch, wenn er an Mädchen denkt“. Das haben die Redakteur:innen abgelehnt. Ich frage mich, ob das bei umgekehrten Vorzeichen, also heterosexuell, überhaupt ein Thema gewesen wäre.
Das klingt, als wäre die sogenannte “schwule Musik” immer noch ein Tabu?
U: Ja. Die Entscheidungen treffen zum Großteil noch Männer mittleren Alters, die sagen: „Unsere Hörer schalten dann ab.“ So wird die eigentlich vorhandene Empathie der Zuhörer:innen immer noch unterschätzt. Ich liebe zum Beispiel die Musik von Lil Nas X. Die wird oft im Radio gespielt, aber die Texte sind halt auf Englisch. Ich glaube, wenn sie auf Deutsch wären, würden die im Rundfunk bei uns nicht gespielt werden. Die sind so spezifisch, so weit sind wir in Deutschland noch nicht.
Mit dem Tabuisieren der Homosexualität ist auch Wolfgang konfrontiert, der junge schwule Staatsanwalt, der in Ku’damm 56 mit Monikas Schwester verheiratet ist. Während Monika über das Tanzen einen möglichen Ausweg findet, versucht Wolfgang, sich anzupassen, was aber nicht funktioniert. Hat Wolfgang in dieser gesellschaftlichen Umgebung überhaupt eine Chance?
P: Er hat eine Chance, aber nicht die, die er verdient. Denn er würde mit einem Outing auch seine Ehefrau mit in den Abgrund reißen. Dann kommen auch noch Kinder, und schon ist es eine Lawine von unglücklichen Menschen, nur aufgrund von gesellschaftlichen Schwachsinns-Normen. Als Staatsanwalt sitzt er sogar doppelt in der Patsche. Wenn er einen weniger bürgerlichen Beruf gehabt hätte, beispielsweise Modedesigner, hätte er ein etwas freieres Leben führen können. Aber so oder so war es kreuzgefährlich: Wenn er sich im Park erwischen lässt, macht er sich strafbar.
Habt ihr auch schon Pläne für kommende Projekte
U: Ja, leider. Die Kunst hat da eine enorme Verantwortung. Der erste Kuss zwischen zwei Männern in der Lindenstraße war ein Riesenskandal! Warum ist das jetzt nicht mehr so? Natürlich, weil es schon so oft in Filmen, Musik, Bildern, Tanz oder eben auch Musicals gezeigt wurde. Das hat alles viel mehr Einfluss, als man denkt, denn man gewöhnt sich daran. Auch Trans-Menschen hatten ja zunächst überhaupt keine Plattform.
Es gibt also noch kein gesellschaftlich akzeptiertes Modell, das für Wolfgang Pate stehen könnte. Heißt das, er ist völlig auf sich allein gestellt?
U: Im Februar wird es einen neuen „Bibi und Tina“-Film geben! Das Genre der Kinderfilme zählt inzwischen ebenfalls zu unseren großen Leidenschaften. Ein zweiter Kinder-Musical-Film kommt auch heraus: „Träume sind die Welt der Tiger“ erscheint im Jänner.
Wird es in Zukunft auch von Rosenstolz wieder etwas zu hören geben?
P: Musikalisch im Moment nicht, aber es wird tatsächlich eine Dokumentation geben. Ich glaube, dass die richtig schön wird. Das ist eine Co-Produktion von UFA Fiction und ARD und es werden vier Teile. Eine reine Dokumentation über Rosenstolz wäre uns zu langweilig gewesen, da hat uns die Idee so abgeholt, dass hier erzählt wird, was in den 90er und Nuller-Jahren alles so passiert ist – aber anhand von Rosenstolz. Da werden auch viele Zeitzeugen mitmachen. Zum Beispiel der ehemalige Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit, der auf politischer Ebene dazu gezwungen wurde, sich öffentlich zu outen. Am Thema Musical werden Ulf und ich auf jeden Fall dranbleiben, weil uns die Verbindung zwischen Musik und Theater so einen Riesenspaß macht.
Danke für dieses nette Gespräch, wir sind schon sehr gespannt und drücken euch die Daumen für die Premiere! Ku’damm 56 hat am 28. November 2021 im Berliner Stage Theater des Westens Premiere.
Photography
Portrait: © Olaf Blecker
Stage: © Jordana Schramm