Activist Edition

Heute bin ich laut: Wie ich durch Krisen meine Stimme fand

Ich war einmal ein braves, gesundes, „ganz normales“ Mädchen vom Land. Bis mit Mitte zwanzig bei mir Endometriose diagnostiziert wurde. Das ist eine Erkrankung, bei der Gewebe in Organe hineinwächst und diese zerstören kann. Bei mir war vor allem der Dickdarm betroffen, und es mussten elf Zentimeter davon entfernt werden. Die Naht heilte schlecht, es blieb ein kleines Loch, das sich erst nach wochenlanger Antibiotika-Therapie, einer Phase der künstlichen Ernährung und täglichen Darmspülungen wieder schloss.

Vier Monate musste ich im Krankenstand bleiben, und diese schwere Zeit hat mich verändert. Ich habe angefangen, in mich hineinzuhören, herauszufinden, was mir wirklich Freude macht, und das dann auch zu tun. Zuerst ging ich allein für drei Monate nach Indien, und nach meiner Rückkehr begann ich, mich in der Endometriose-Selbsthilfe zu engagieren. Denn diese chronische Erkrankung wird nicht ernst genommen – obwohl allein im deutschsprachigen Raum über eine Million Frauen (auch trans* und non-binäre, in seltenen Fällen sogar Menschen ohne Uterus) daran leiden. Weil das Haupt-Symptom von Endometriose Regelschmerzen sind. Und hey, die hat doch eh fast jede Frau, oder?

Diese „Die sollen nicht so wehleidig sein“-Mentalität, die man zuweilen sogar unter Mediziner:innen antrifft, hat mich so aufgeregt, dass ich nach kurzer Zeit Obfrau der EVA – Endometriose Vereinigung Austria – wurde. Mit meinen Kolleginnen habe ich Plakat-Kampagnen organisiert, und das erste Mal in meinem Leben war ich laut. Ich habe allen von meiner Erkrankung und meiner großen OP erzählt. Alle sollten wissen, dass starke Regelschmerzen nicht normal sind, sondern dass eine chronische, lebenseinschränkende Krankheit dahinter stecken kann.

Bei vielen Betroffenen kehrt die Endometriose bald nach der chirurgischen Sanierung zurück. Ich selbst bin beschwerdefrei geblieben. Und diese Zeit habe ich genutzt, vor allem um immer mehr zu mir selbst zu finden. Ich habe alte Gewohnheiten und Denkmuster abgelegt, mich sozusagen gehäutet, und mich mit 35 Jahren das erste Mal in meinem Leben in eine Frau verliebt. Claudia und ich sind mittlerweile seit fast zehn Jahren ein Paar, verheiratet, und ich könnte glücklicher nicht sein.

Gesund bin ich allerdings nicht geblieben. Denn fünfzehn Jahre nach meiner Operation wurde ein faustgroßer Abszess an der alten Darmnaht diagnostiziert. Das Loch, das mich damals so lange ans Krankenbett gefesselt hatte, war wohl doch nie wirklich verheilt. Immer wieder aus dem Darm austretende Keime hatten großen Schaden in meinem Bauch angerichtet.

In einer sehr aufwändigen Operation, bei der mein Bauch vom Schambein bis über den Nabel geöffnet werden musste, wurden der Abszess und das kaputte Stück Darm entfernt. Danach war ich stuhlinkontinent. Und nach ein paar Monaten kamen leider auch die Beschwerden zurück. Es hatten sich wieder Löcher im Darm, ein Abszess und eine anovaginale Fistel gebildet. Luft und Stuhl kam mir völlig unkontrollierbar durch alle Öffnungen zwischen meinen Beinen. Und die Schmerzen waren schwer zu ertragen. Ich verließ kaum noch das Haus, mein soziales Leben war gleich null. Ein künstlicher Darmausgang – mein persönliches Horrorszenario – war der letzte Ausweg.


Wer ist man denn, wenn man durch den Bauch in einen Beutel kackt?


Seit meiner ersten OP, bei der die Möglichkeit eines Stomas schon einmal angesprochen wurde, hatte ich panische Angst davor gehabt. Wer ist man denn, wenn man durch den Bauch in einen Beutel kackt? Was bedeutet das fürs Leben? Für die Liebe? Fürs eigene Selbstverständnis? Ich sollte es herausfinden, denn am 16. März 2020, an dem Tag, an dem Österreich plötzlich im ersten „Lockdown“ stillstand, hatte ich ganz andere Sorgen als Corona. Ich bekam ein Dickdarm-Stoma.

Und was ich nie für möglich gehalten hätte, ist eingetreten: Ich bin heute gesund und lebe ein wundervolles Leben – mit Beutel am Bauch. Und ich bin wieder laut. Denn meine eigene frühere Angst, die allgegenwärtige Scham, das Gerede hinter vorgehaltener Hand und die Tatsache, dass manche Menschen lieber sterben würden, als so zur Toilette zu gehen wie ich, treiben mich an.

Nach meinem ersten Buch „Endometriose – ein Selbsthilfebuch“ habe ich jetzt ein zweites geschrieben. Es heißt „Gut leben mit Beutel am Bauch – Ein Stoma-Mutmachbuch“. Denn genau das möchte ich machen: Mut. Ich möchte zeigen, dass ein Leben mit künstlichem Darmausgang zwar anders ist und schon eine Herausforderung sein kann, dass es aber ein gutes Leben ist. Damit die Welt mir das auch wirklich glaubt, gehe ich auf Instagram ganz offen mit meiner Behinderung um – zeige meinen künstlichen Darmausgang, mich mit Beutel, drehe Stoma-Fashion-Reels, stelle unbequeme Fragen und beantworte sie dann auch.

Ich bin eine späte Rebellin – vom braven Mädchen vom Land bin ich zur lauten, queeren, behinderten Frau geworden. Und nichts anderes möchte ich sein. Jeder darf und soll mitbekommen, dass Anderssein in Ordnung ist. 

CREDITS

Editor
Rita Hofmeister | @rita_hofmeister

Photos
Marion Ida



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