Für manche ist die Familie alles: frohe Feste, Geborgenheit, Zusammenhalt. Doch je älter man wird, desto häufiger sieht man, dass solche Familien sehr rar sind. Scheidungen, toxische Abhängigkeiten, Schuldgefühle – auch das prägt viele Menschen in ihrem verwandtschaftlichen Umfeld. Für viele gibt es am Ende nur einen Weg: Kontaktabbruch. Wir haben mit drei Menschen gesprochen, die diesen Schritt gewagt haben. Aus Respekt vor ihren sehr persönlichen Geschichten drucken wir hier nur Zitate ab, die dennoch einen tiefen Einblick geben…
FLORA, 26 Jahre
Flora hat vor eineinhalb Jahren den Kontakt zu ihrer alkoholkranken Mutter abgebrochen. Obwohl sie früher eine enge Beziehung hatten, ist Flora diesen Schritt schließlich gegangen.
“Irgendwann habe ich einfach gewusst, dass ich das machen muss.”
“Ich wollte es ihr sagen, aber ich habe es nicht geschafft. Ich habe Angst, vor ihr Dinge anzusprechen, die ungemütlich sind. Irgendwann habe ich es ihr geschrieben. Sie hat mich dann auf WhatsApp mit Nachrichten bombardiert, und irgendwann habe ich sie blockieren müssen.”
“Es war eine wirklich richtige und wichtige Entscheidung. Es geht mir so gut wie mein ganzes Leben zuvor nicht. Es war erleichternd und befreiend. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich so sein kann, wie ich bin.”
“Ich kann mir nicht vorstellen, wieder Kontakt zu ihr zu haben. Dafür hat sie sich zu sehr verändert. Aber trotzdem ist der Hoffnungsfunke da.”
“Man sollte jemanden im Leben haben, der einem während dieser Zeit Halt gibt und neutral zuhören kann. Die ersten Monate reißt es einem den Boden unter den Füßen weg, und ich stelle es mir schlimm vor, wenn man dann niemanden hat, der einen festhält.”
JANNIK, 21 Jahre
Jannik hat seit sieben Jahren keinen Umgang mehr mit seinem Vater. Dieser ist manisch-depressiv und hat ihn ohne ersichtliche Gründe nach einem Kinobesuch an einer Tankstelle ausgesetzt. Trotz Bannmeile hat er auch Janniks Mutter aufgelauert und ihr gedroht.
“Ich habe den Kontakt für mich pausiert. Ich wollte Abi machen, studieren. Da kann man sowas einfach nicht brauchen.”
“Ich weiß, dass irgendwann der Punkt kommt, wo ich sagen werde, dass man doch vielleicht miteinander reden sollte. Aber wann das sein wird, das weiß ich nicht. Man müsste sieben Jahre rekapitulieren, vielleicht auch 17. Das ist nichts, was man bei einem Kaffee in zwei Stunden erledigt.”
“Mich selbst touchiert der Abbruch nicht mehr. Aber mein Vater stalkt im Grunde seit sieben Jahren meine Mutter. Wenn ich dann dienstlich unterwegs oder im Urlaub bin, denke ich häufig an sie.”
“Er ist einer der wenigen Menschen, das weiß ich sicher, die sich ihr Leben lang nicht ändern werden.”
“Man muss daran denken, dass so ein Bruch einen selbst weiterbringt. Alles im Leben kommt, wie es kommen soll, und alles hat einen tieferen Sinn.”
CHANTAL, 24 Jahre
Nach dem Tod ihrer Mutter hat Chantal den Kontakt zu ihrem Vater und großen Teilen ihrer Familie beendet. Sie leidet unter Depressionen und Angststörungen. Die Familie hat das nicht ernst genommen und Chantals Grenzen häufig überschritten.
“Es ist nicht der Tiefpunkt für mich oder die Familie. Mir geht es auf jeden Fall besser, und jetzt gibt es keine Konflikte mehr, weil kein Kontakt besteht. Ich glaube, dass es für alle so besser ist.”
“Mir wurde immer eingetrichtert, dass Blut dicker ist als Wasser. Das ist beängstigend, weil es alle, die nicht verwandt sind, aus dem Leben ausschließt. Aus diesem Denken auszubrechen und meine Freund:innen zur Familie zu machen, musste ich erst lernen.”
“Ich fühle mich fast immer einsam. Ich tu mir sehr schwer damit, in mir selber ein Zuhause zu finden. Dennoch war der Kontaktabbruch eine Befreiung, die ich nicht bereue.”
“Ein Kontaktabbruch muss nicht immer ein cleaner Cut sein, und dann redet man nie wieder miteinander. Es darf auch ein Ausschleichen sein.”
“Man soll sich nicht schlecht fühlen, wenn man dann doch wieder das Bedürfnis nach Nähe hat.”
“Oft denke ich darüber nach, was ich machen würde, wenn mein Vater mich jetzt anrufen und mir sagen würde, dass er im Krankenhaus ist und bald stirbt. Aber eine Antwort weiß ich darauf nicht.”
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Editor:
Konstantin Paul | @konstantinfranzfriedrich