Escapist Edition

Vom Gerichtssaal in den Ballroom: Die Flucht in den queeren Underground

Es ist halb acht an einem Freitagmorgen. Fast Wochenende, fast die Flucht aus den alltäglichen Ketten hinein in zwei befreiende Tage des Seins. Meine Mitbewohnerin Nishimiye (she/her) kommt die Treppe unserer Wohnung hinunter, summt „Falling“ von Haim, während sie die elegante Laptoptasche greift, in den seriösen Trenchcoat schlüpft, mir mit Kusshand ein „Bye, Darling“ zuruft und aus der Tür verschwindet. Das schwarze Paillettenkleid, das gleich neben dem Mantel hängt, bewegt sich noch leicht vom Luftzug. Es scheint fast, als würde es auf Nishimiyes Kusshand antworten – wohlwissend, dass in ein paar Stunden der Trenchcoat gegen die glitzernde Pracht getauscht wird. Abends, gegen sieben, öffnet sich die Tür, und Nishimiye läuft aufgeregt die Treppe hoch: „Hey, Love!“ Der Trench wird über die Kleiderstange geworfen, der Chorus von Beyoncé inbrünstig zu Ende gesungen – und die Geduld des Kleides wird endlich belohnt. Anmutig schmiegt es sich an Nishimiye, die gekonnt mit hohen Lackstiefeln eine Pirouette dreht und sich dabei lächelnd im Spiegel betrachtet: „Hey Nishimiye, House of Vineyard.”

Die in Amsterdam lebende Nishimiye (@rwandurful) steht mit den Füßen in zwei Welten, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten: einerseits in der vor allem von weißen Cis-Männern besetzten Corporate-Welt, und andererseits in der queeren Ballroom-Kultur der Black- und LatinX-Community. Seit Juni 2022 ist die 24-Jährige Teil des House of Vineyards, des ältesten der sogenannten “Häuser” der niederländischen Ballroom-Szene. Anwaltskanzlei by Day, Ballroom by Night? In einem Gespräch erklärt uns Nishimiye, inwiefern diese beiden Welten koexistieren können und wieso die Ballroom-Szene weniger Flucht als ein Verschmelzen ihrer individuellen Facetten darstellt.

VANGARDIST: Du hast dich bereits in frühen Jahren für ein Jurastudium entschieden. Wie bist du anschließend auf die Ballroom-Kultur aufmerksam geworden?

Nishimiye: Rechtswissenschaften war sehr früh mein Karriereziel und wurde von meiner Familie sehr unterstützt. Zu dieser Zeit hatte ich meine eigene Sexualität noch nicht genug erforscht, um den cis-heteronormativen Aspekt der Corporate-Welt zu berücksichtigen. Damals machte ich mir hauptsächlich Sorgen darüber, wie sich der Mangel an Schwarzer und ethnischer Vertretung auf meine Erfolgschancen auswirken würde. Trotzdem wollte ich eine juristische Karriere einschlagen, um jene Werkzeuge zu besitzen, die es mir ermöglichen, eine Stimme für die Stimmlosen zu sein. Irgendwann wurde ich dann ein großer Fan der Serie “Pose”. Ich interessierte mich bereits für verschiedene Queer-Themen, insbesondere für jene, die für die Black Queer History relevant sind. Allerdings wurde mir erst später bewusst, dass es auch in Europa eine aktive Ballroom-Szene gibt. Durch Mitglieder der Community habe ich dann viel über die Kultur gelernt. An meinem 24. Geburtstag besuchte ich zum ersten Mal einen solchen Ball. Amber Vineyard, Wegbereiterin der niederländischen Ballroom-Szene, war zusammen mit Father Elly Vineyard die Gastgeberin. Ich war mit meinem besten Freund dort, und wir haben uns in die Community und alles, wofür sie steht, verliebt.

V: Wie würdest du deine bisherigen Erfahrungen in der Community beschreiben?

N: Durch meine Queerness erlebe ich unendlich viele Möglichkeiten der Selbstentfaltung. Queerness hat meine Sicht auf die Gesellschaft zum Besseren verändert. Sie hat mich neue Wege gelehrt, meine Freund:innen zu lieben, die nun Familie sind, und mich auf eine Weise kreativ auszudrücken, die ich vorher nie in Betracht gezogen habe.

V: Hast du das Gefühl, dass du im Ballroom Facetten deiner Identität ausleben kannst, die im Alltag so nicht akzeptiert werden?

N: Unbedingt. Ich komme aus einer Kleinstadt, und mir wurde mein ganzes Leben lang gesagt, ich sei zu extravagant. Ich erlebe Ballroom als deneinen Ort, an dem man nie zu extra sein kann. Die Menschen dort lieben Authentizität und zelebrieren Kreativität. Daher ist Ballroom ein sicherer Hafen, ein Zuhause für queere Menschen, die sich, wie ich, nach Gemeinschaft sehnen. Meine Erfahrung war eine totale Selbstfindung, und ich glaube, dass ich mit der Zeit noch mehr aus der Heteronormativität meiner alltäglichen Welt ausbrechen werde. Ich nehme an Ballroom als „Femme Figure“ teil, bringe eine Seite von mir zum Vorschein, die außerhalb dieser Welt noch verborgen ist. Das war bisher die befreiendste Erfahrung meines Lebens. Ich bin der Ballroom-Community für immer dankbar, dass sie einen sicheren Raum geschaffen hat, in dem ich meine innere weibliche Figur zum Vorschein bringen kann.

V: Wie fühlt es sich an, von einer “seriösen” Corporate-Kleidung in ein glitzerndes Paillettenkleid zu wechseln?

N: Wahrscheinlich wie Hannah Montana, als sie das Beste beider Welten lebte. Ich empfinde es mehr als einen symbolischen Wechsel von einem Leben ins andere. Wenn ich bei meinem Corporate-Job bin und meine Anzüge trage, ist das wie ein Vogel im Käfig, der zu wenig Platz zum Fliegen hat. Sobald sich aber die Tür nach draußen öffnet, breitet mein innerer Vogel seine Flügel aus und fliegt in eine Welt voller neuer Möglichkeiten.

V: Empfindest du den Ballroom als eskapistisch oder eher als die eigentliche Welt?

N:  Ich erlebe ihn als eine Kombination aus beidem. Ich flüchte aus einer Welt, die auf Heteronormativität gebaut und auf heterosexuelle Cis-Menschen ausgerichtet ist. Ich erlebe diese Flucht allerdings nie als etwas, das ich alleine tun muss, sondern eher als etwas, das ich mit anderen Mitgliedern meiner Community tue. Aus diesem Grund repräsentiert der Ballroom auch ein ganzheitliches Zuhause, von dem ich dachte, dass ich es nie haben würde. Ein Zuhause, in dem das Verstehen immer im Vordergrund steht.

V: Was assoziierst du mit „Escape“?

N: Für mich bedeutet es, sich selbst zu wählen. Sich selbst an erste Stelle setzen, um ein wirklich freies und authentisches Leben führen zu können.

CREDITS

Editor
Lena Pfeiffer | @lenipepper

Photography
Alain Dramé



Weitere Artikel dieser Ausgabe...

Escapist Edition

Issue #89:
The Escapist Edition

Wir versammeln in diesem Teil unserer Ausgabe Geschichten über Situationen,...

#escapist #Magazine

Escapist Edition

Druckfrisch auf deinen Couchtisch: Unsere

#escapist #Print Issue

Escapist Edition

Für die Flucht nach egal, wohin!

Früher im Sportunterricht, der mir (wie den meisten Queers) recht...

#escapist #prologue

Escapist Edition

Fluch(t) und Segen: Warum wir den Eskapismus

Dating, Fernsehen, Arbeit, Drogen, Sport, Religion, Online-Games, Social Media –...

#escapist #opener

Escapist Edition

“Ich traute mich nicht auf CSDs” –

Jochen Schropp ist Schauspieler und Moderator. Mit den Podcasts “Yvonne & Berner”,...

#Coming Out #escapist #Interview

Escapist Edition

Warum ukrainische LGBTQIA+ Personen im Krieg

Seit über einem halben Jahr herrscht im Osten Europas ein...

#escapist #lgtbiq #Ukraine #war

Escapist Edition

I exist.

Ich existiere nicht. Mein Name ist Gialu, Pronomen dey/er, und...

#awareness #escapist #Fashion #Shooting

Escapist Edition

Sichtbarkeit ist nicht genug: Marvyn Macnificent

“Bist du ein Junge oder ein Mädchen?” Marvyn Macnificent zählt...

#escapist #feminization #Interview #makeup

Escapist Edition

“Beauty” – ESCAPIST

MBR Dass Hautpflege das A&O ist, wissen wir alle. Mit...

#Beauty #COSMETICS #Fashion #makeup

Escapist Edition

Goodbye Forever: Warum Menschen den Kontakt zur

Für manche ist die Familie alles: frohe Feste, Geborgenheit, Zusammenhalt....

#escapist #Family #Interview