Escapist Edition

Warum ukrainische LGBTQIA+ Personen im Krieg kämpfen

Seit über einem halben Jahr herrscht im Osten Europas ein brutaler Krieg. Der russische Diktator Wladimir Putin und sein Regime versuchen, die ukrainische Identität auszulöschen. Das stellt auch queere Menschen vor eine schwerwiegende Frage: Flucht oder Kampf? Für VANGARDIST habe ich mit einem schwulen Mitglied der ukrainischen Streitkräfte über seinen Einsatz und die Lage von LGBTQIA+ Personen an der Front gesprochen.

Eine dunkle Vorahnung 

Am 23. Februar dieses Jahres stand in meinem Terminkalender kurz vor Feierabend noch ein Interview mit Anja Sjablikowa, der Co-Organisatorin der Charkiw Pride. Die Spannung in der ukrainischen Bevölkerung und in der Diaspora war zu diesem Zeitpunkt enorm hoch, das russische Militär hatte bereits tausende Tonnen an militärischem Equipment, Bluttransfusionen und weiteres Kriegsmaterial an die russisch-ukrainische Grenze gebracht. Anja sprach über die Angst der queeren Community vor einem Großangriff, über Internierungslager in den bereits besetzten Gebieten und über Todeslisten mit Namen queerer Aktivist:innen. Dass uns die Wirklichkeit einen Tag später, als der Artikel online ging, einholen sollte, wussten wir da noch nicht. 

Sätze, die man nie aussprechen wollte

Als der Großangriff begann, waren zwei meiner Freunde – beide sind queer – in Kyjiw. Die russische Armee schien sich unaufhaltsam den Weg Richtung Hauptstadt zu bahnen, mit Raketen kündigten sie ihr Vorhaben an. Während einer der beiden mit weiteren Bekannten im Keller ausharrte und die Stadt erst später verließ, eilte der andere zum Bahnhof, um einen der – wie wir dachten – letzten Züge zu bekommen. Auf dem Weg dorthin instruierte ich ihn: Solltest du es nicht schaffen fortzukommen, setze dein Handy auf Werkseinstellungen zurück und lösche alle Daten, sobald du die russische Armee in der Nähe hörst. Sie dürfen nicht den geringsten Verdacht haben, dass du schwul bist. 

Die Flucht nach vorn

Der Kyjiwer Iwan Honsyk (@honzykivan7) hat sich für einen anderen Weg entschieden. Am 24. Februar wachte er von der Alarmanlage eines Autos auf, die durch einen Raketeneinschlag ausgelöst wurde. “Meine Freund:innen und ich waren uns einig: Der Krieg hat begonnen”, berichtet er. Der 27-Jährige packte also seinen Rucksack und ging los. Sein Ziel: das Militärhauptquartier. Seitdem arbeitet er als Militärmediziner, organisiert die medizinische Versorgung seiner Kampfeinheit. Vor dem Großangriff der russischen Armee war Iwan schon einmal für das ukrainische Militär im Einsatz. Nach seiner Ausbildung zum Sanitäter war er für drei Jahre bei den ЗСУ unter Vertrag, wie die Streitkräfte der Ukraine offiziell abgekürzt werden, und im umkämpften Donbas nach der ersten russischen Invasion 2014 im Einsatz.

Ein neues Kapitel 

Anfang März wurde ich erstmals auf Iwan aufmerksam. Auf dem Instagram-Account @lgbtiqmilitary wurden Bilder von ihm gepostet: erst in Militäruniform, dann von einem Fotoshoot in Dessous und High Heels. Der Account gehört zur NGO “Ukrainisches LGBTIQ+ Militär für gleiche Rechte”. Ein Zusammenschluss von queeren Soldat:innen, die sich für die Ehe für alle und den Schutz von allen queeren Ukrainer:innen einsetzen. Sie dürfen ihr Abzeichen, ein Einhorn, das dem brennenden ukrainischen Wappen entgegentritt, auch auf ihrer Uniform im Feld tragen. Ab hier war mir vollends klar: Dieser Krieg ist auch ein neues Kapitel in der Queer History. Bisher waren Queersein und Militär kaum miteinander vereinbar. Man hatte nur die Wahl, sich zu verstecken oder Opfer von Diskriminierung und Übergriffen zu werden. Heute kämpfen an der ukrainischen Front queere Männer, Frauen und Enbys neben ihren Cis- und Heterokamerad:innen. “Ich fühle mich sicher hier”, sagt Iwan. 

Stärke ist nicht gleich maskulin 

Zwischen seinen beiden Kriegseinsätzen hat sich Iwan anderen Dingen zugewandt. “Ich bin ein kreativer Mensch”, sagt er. Er ist Make-up-Artist und geht seiner großen Leidenschaft nach: Pole Dance. “Im Moment vermisse ich meine kreativen Tätigkeiten, aber alles hat seine Zeit. Wir werden gewinnen, und dann kehre ich zu meinem Leben zurück.” Dass Queers an der Front kämpfen, ist der totale Gegenentwurf zu dem, wofür das Regime unter Putin steht. In russischen Medien wird häufig über ‘Gayropa’ gesprochen: einen angeblich verweichlichten und pervertierten Westen, dem nur Russland mit seinen ‘traditionellen Werten’ gegenübersteht. Nun muss sich die russische Armee LGBTQIA+ Kämpfer:innen stellen, die ihre Rechte auch mit der Waffe in der Hand verteidigen. 

Die Zukunft, auf die alle hoffen

Das verändert auch in der ukrainischen Gesellschaft das Bild von queeren Menschen. Iwan bestätigt den Eindruck, dass sich die Situation von LGBTQIA+ Personen verbessert. Vor kurzem hat Präsident Wolodymyr Selenskyj nach einer Petition mit 28.000 Unterschriften die Einführung von eingetragenen Partnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare angekündigt. Dadurch sollen queere Soldat:innen und ihre Partner:innen abgesichert sein, wenn ihnen an der Front etwas zustößt. Auch die Ehe für alle wurde bereits angekündigt: Aufgrund einer dafür notwendigen Verfassungsänderung kann dies jedoch erst nach dem Ende des Krieges erfolgen. Und damit dieses Ende bald erreicht ist, suchen die queeren Streitkräfte der ukrainischen Armee schließlich die Flucht nach vorn.

CREDITS

Editor
Konstantin Paul | @konstantinfranzfriedrich

Photography
Yuliva Dryahina
Vitalina Zelenska



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