Escapist Edition

Fluch(t) und Segen: Warum wir den Eskapismus brauchen

Dating, Fernsehen, Arbeit, Drogen, Sport, Religion, Online-Games, Social Media – die Möglichkeiten, sich eine Auszeit von der Wirklichkeit zu gönnen, sind so vielfältig wie nie zuvor. Die einen meditieren in der Natur, die anderen geben sich ein ganzes Pride-Month lang den wildesten Exzessen hin, wieder andere tauchen in digitale Parallelwelten ein, um dort auf Monsterjagd zu gehen, sich kontemplativ Dick-Pics zu widmen oder einer großen Weltverschwörung auf die Spur zu kommen. Das ist natürlich wunderbar – wäre da nicht dieses Unbehagen, das uns als ständiger Begleiter aus dem Hinterstübchen zuraunt: „Du verschwendest deine Zeit, du willst dich nur nicht den Problemen stellen, die dich in der realen Welt erwarten!“ Hier sind fünf Gründe, warum der Eskapismus so ein schlechtes Image hat, obwohl wir ihn so dringend brauchen…

#1: Eine postmoderne Sünde

Für alle, deren Über-Ich keine prätentiösen Fremdwörter benutzt, um einem den Spaß an der Freude zu vermiesen: Als Eskapismus bezeichnet man die gute alte Flucht aus der profanen Wirklichkeit in eine imaginierte Welt aus Zerstreuung, Illusion oder Vergnügen. Eine Praxis, die vor allem in der westlichen Kultur einen recht schweren Stand hat. In aller Regel wird dieser Begriff nämlich im negativen Sinn verwendet, als Vorwurf, Unterstellung und Kritik. Das hat eine lange Tradition und geht auf die radikale Diesseitigkeit der bürgerlichen Aufklärung zurück. Indem man das Heil des Menschen nicht länger in der Ausübung von Religion, sondern in der Anwendung der ihm gegebenen Vernunft zu suchen begonnen hatte, war alles Transzendente, Phantastische und Illusorische im besten Falle ein aristokratischer Zeitvertreib – im schlimmsten aber Geisteskrankheit. Doch auch wenn diese Kulturtechnik nicht in den Bereich des Medizinischen geschoben wird, gilt der angewandte Eskapismus in unseren Breiten oft als als „leere“ Tätigkeit in dem Sinn, dass sie keinen unmittelbaren „Output“ generiert – eine Todsünde in unserer postmodernen Leistungsgesellschaft. Dass wir trotzdem alle einen Großteil unserer (freien) Zeit mit eskapistischen Tätigkeiten verbringen, ist da kein Gegenargument. Das war schon immer so, bei allen Sünden.

#2: Eine psychische Krankheit

Die moderne Psychopathologie kennt den Eskapismus als seelische Zwangsstörung, bei der die Realitätsflucht als krankhafte Bewältigungsstrategie erkannt wird, um Problemen in der echten Welt (vorläufig) aus dem Weg zu gehen. Dabei gilt ein gewisses Maß an Eskapismus sogar als gesund, weil er uns hilft, mit belastenden Situationen besser umzugehen. Manchmal braucht man einfach eine Pause von allem, was da so den ganzen Tag auf einen niederprasselt. Schon Sigmund Freud hat ein „gesundes Maß“ an eskapistischer Phantasie als notwendig erachtet, um die Lebensrealität der Menschen erträglicher zu machen. Problematisch wird es erst, wenn uns dieses Vermeidungsverhalten daran hindert, Schwierigkeiten zu bewältigen. Die Psychologie unterscheidet hier zwischen einem selbstunterdrückenden Eskapismus und einem selbsterweiternden. Bei ersterem flieht man vor unangenehmen Gemütszuständen, bei letzterem nutzt man die Flucht ins Reich der Phantasie, um neue, positive Erfahrungen zu sammeln und sich selbst aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können. Bei der Definition von Eskapismus als Geisteskrankheit geht es immer um die Motivation für entsprechendes Handeln. Leider ist die in den meisten Fällen aber nicht so eindeutig: Ist der Konsum von Rauschmitteln zur Überwindung sozialer Hemmungen Selbstunterdrückung oder Selbstbefreiung? Verliert man sich in erotischer Fan-Fiction, weil man zu faul zum Daten ist oder weil man im echten Leben einfach nicht mit Superhelden schlafen kann und das eine Erfahrung ist, die man nicht missen will? Die Grenze zwischen bewusstseinserweiterndem Zeitvertreib und psychischer Störung ist fließend – und im Grunde willkürlich gezogen.


“Queere TV-Shows und nicht-binäre Genderoptionen auf Facebook sind zwar schön, aber in Wahrheit kein Ersatz für echte Gleichberechtigung.”


#3: Ein gutes Geschäft

Egal, ob man den Untergang des Abendlandes fürchtet, weil alle nur noch auf ihre Smartphones starren, oder ob man keine Zeit hat, sich darüber Gedanken zu machen, weil man gerade seinen Insta-Feed am Handy checkt – das Verlangen, von Zeit zu Zeit aus der realen Welt zu flüchten, ist auf jeden Fall ein Grundbedürfnis, mit dem sich eine Menge Geld verdienen lässt. Auch wenn es nicht zwingend nötig ist, befriedigen die meisten von uns dieses Verlangen über irgendeine Art von Konsum: sei es von Alkohol oder Drogen, Filmen, Büchern, Serien, Computerspielen oder Social Media. Und weil man damit so viel Geld verdienen kann, schwingt immer die (nicht ganz unberechtigte) Sorge mit, dass wir das vielleicht gar nicht freiwillig tun, sondern heimtückisch ersonnenen Produkten auf den Leim gehen, die uns süchtig machen und in ihren Bann ziehen. Das ist nicht erst seit der Erfindung von Instagram & Co. der Fall. Das Lesen von Romanen – der eskapistischen Literaturgattung schlechthin – hatte im 19. Jahrhundert etwa den gleichen Stand wie heute der Konsum von Trash-TV und Online-Games: Es galt als Zeitverschwendung, die noch dazu das Risiko barg, den Anschluss an die echte Welt zu verlieren. Bezeichnenderweise handelt einer der ersten neuzeitlichen Romane von einem Mann, der aufgrund seines exzessiven Konsums von Rittergeschichten die Realität mit der Fiktion und sich selbst mit einem solchen Ritter verwechselt – ein wahrer Meta-Clusterfuck. Aktuell manifestiert sich dieses Unbehagen rund um die Ankündigung von Facebook-CEO Mark Zuckerberg, ein hyper-immersives Internet – das Metaverse – erschaffen zu wollen. Da fließen Milliarden Dollar Venture-Capital in ein Produkt, das uns am Ende noch mehr von der echten Welt ablenken soll, als es das Internet schon heute tut. Bedenklich, sehr bedenklich.

#4: Opium fürs Volk

Je unerträglicher das Leben in der echten Welt ist, desto mehr suchen wir nach Möglichkeiten, den realen Umständen in Richtung einer Phantasiewelt zu entkommen. Damit kann man nicht nur eine Menge Geld verdienen, sondern damit lassen sich auch (soziale) Missstände verschleiern. Zumindest lautet so die materialistische, traditionell eher linke Kritik an unserem kollektiven Hang zur Realitätsflucht. Schon mal den Begriff „Kulturindustrie“ gehört? Polemisch formuliert, ist damit die kapitalistisch organisierte Produktion von eskapistischem Unterhaltungs-Bullshit gemeint, der dazu dient, ganze Gesellschaften am Nachdenken zu hindern. Queere TV-Shows und nicht-binäre Genderoptionen auf Facebook sind zwar schön, aber in Wahrheit kein Ersatz für echte Gleichberechtigung. Als „Opium des Volks“ hat Karl Marx das schon vor 150 Jahren bezeichnet und damit die Religion gemeint. Im 20. Jahrhundert wurde diese „Aufgabe“ dann von den Massenmedien übernommen. Und weil diese Art linker Kulturkritik im Zuge der 68er-Bewegung selbst zu einer Art globalem Popkultur-Phänomen geworden ist, haben wir diese Bedenken alle irgendwo im Hinterkopf gespeichert. Es sind diese Ideen und Konzepte, die uns aus dem zu Beginn erwähnten Hinterstübchen heraus ein schlechtes Gewissen machen, sobald wir uns allzu hemmungslos dem Eskapismus hingeben. Anerzogen, quasi.

#5: Voraussetzung für eine bessere Welt

Bei aller Kritik an unserem Bedürfnis, die Nüchternheit der „echten Welt“ gegen den Reichtum einer ausgedachten zu vertauschen, ist der Eskapismus aber auch ein wesentlicher Motor für Veränderung zum Positiven. Die meisten Formen der Kunst wären ohne Eskapismus nur schwer vorstellbar, und das hypothetische Durchspielen von Utopien wäre ohne unseren Hang zur Realitätsflucht überhaupt nicht möglich. Martin Luther Kings berühmte „I have a dream“-Rede bedient sich dieser Fähigkeit genauso wie die Pride-Bewegung oder die „Fridays for Future“-Aktivist:innen. Und der Vorwurf des Eskapismus kommt nicht selten von jenen, die ein Interesse daran haben, dass alles so bleibt, wie es immer war. Entscheidend ist nur, dass man den Weg aus der imaginierten Welt zurück in die reale findet – zumindest bei Bedarf. Freilich mit ganz neuen Ideen im Gepäck, die für viele erst mal nur phantastisch klingen, aber mit der Zeit zur neuen Realität werden können. Und wenn es keine absehbare Möglichkeit zur Verbesserung der „echten“ Lebensumstände gibt, dann ist abhauen noch immer besser als das Ausharren im Elend. Unsere Fähigkeit zur Flucht ins Reich der Phantasie ist nämlich nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine Superpower.

CREDITS

Editor
Klemens Gindl

Photography
Marko Stojan



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