Zeitgeist

Die Rache Gottes – und warum sie uns daran hindert, über HIV zu sprechen

HIV ist eine Strafe Gottes. Wenn man denn an ihn glaubt. Oder besser, wenn man an das glaubt, wofür der Gott aus der Bibel steht: für ein archaisches, patriarchales Gesellschaftsbild, das uns aus längst vergangenen Zeiten ins 21. Jahrhundert gefolgt ist. Für alle anderen ist es einfach nur eine Krankheit. Wenn auch eine beschissene. Okay, denkt man sich da schnell, als privilegierter, aufgeklärter Vertreter der Ersten Welt bin ich über solche steinzeitlichen Mätzchen erhaben; klar ist HIV nur ‘ne Krankheit wie jede andere auch. Glückwunsch an jeden, der das aufrichtig von sich behaupten kann. Allzu viele können das aber nicht sein, denn nach wie vor sind Menschen mit einem positiven Testergebnis – auch im Westen – mit erheblicher sozialer Stigmatisierung konfrontiert. Warum man ein konservatives A******** sein kann, ohne an Gott zu glauben, und wie das mit dem Totschweigen von HIV/AIDS zusammenhängt, hat VANGARDIST aus gegebenem Anlass für euch recherchiert…
 

GEIßEL DER MENSCHHEIT

 

Eines vorweg: Für einen nicht unerheblichen Teil der Menschheit hat HIV/AIDS tatsächlich apokalyptische Dimensionen. In Afrika, dem am stärksten betroffenen Erdteil, rafft die erworbene Immunschwäche ganze Gesellschaften dahin. Nicht damals in den 90ern, nicht in 30 Jahren – jetzt, in diesem Moment! Südlich der Sahara leben über 22 Millionen Menschen mit einem positiven Status. Von einer erheblich höheren Dunkelziffer kann ausgegangen werden. In Ländern wie Botswana, Namibia oder Südafrika ist fast ein Viertel der Bevölkerung betroffen. Aber nicht jenes Viertel im Alter jenseits der 60. Vergesst Ebola, vergesst sogar all die Kriege, die gerade von Donetsk bis Aleppo, von Kirkuk bis Benghazi wüten. Nach Hunger und Typhus ist HIV die vermutlich schlimmste Geißel der gegenwärtigen Menschheit. Allein für die westliche Welt gilt das im Moment nicht. Das heißt aber nicht, dass das so bleiben muss. Denn bei aller Demut, die angesichts unserer privilegierten Situation gegenüber dem unendlich größeren Leid der Betroffenen in Entwicklungs- und Schwellenländern angebracht ist, haben auch wir das zugrunde liegende Problem noch nicht überwunden. Gemeint ist da jetzt kein medizinisches, sondern ein gesellschaftliches.
 
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ENDZEIT-SZENARIO

 

Der Grund für die beispiellose Ausbreitung der Epidemie im ärmsten Teil unserer Welt war und ist neben dem materiellen Mangel an Mitteln zur Bekämpfung und Prävention vor allem der, dass nicht darüber gesprochen wurde und wird. Weil es sich um ein Tabu handelt. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Mit der Aussicht auf massive Diskriminierung und Stigmatisierung ist die Bereitschaft, sich einem Test zu unterziehen, verständlicherweise gering. Ein offener Umgang mit der Krankheit ist aber wiederum eine Grundvoraussetzung für das Eindämmen der Pandemie. Während im Westen das von den Massenmedien in den 80ern und 90ern kolportierte Endzeit-Szenario zu einer vergleichsweise wirkungsvollen Aufklärung geführt hatte, konnte sich HIV in der Dritten Welt über zwei Jahrzehnte beinahe ungehindert ausbreiten. Aber auch im Westen ist das Thema seit jeher eine delikate Angelegenheit. Auch hier bedeutet die Krankheit nach wie vor ein Stigma, so dass die meisten Betroffenen vermutlich dreimal überlegen, ob sie einen offenen Umgang damit pflegen wollen. Und das, obwohl die Sache medizinisch kein wirkliches Thema mehr ist. Und während wir uns noch selbst auf die Schulter klopfen, weil wir so super aufgeklärt sind, vergessen wir, dass das ganze Wissen ziemlich wertlos ist, wenn man nicht darüber sprechen kann. Tatsache ist, dass wir in den letzten Jahren, nachdem wir die einschlägige Endzeitstimmung überwunden haben, wieder eine Entwicklung hin zum Schweigen erleben. Aus Ignoranz, weil wir denken, HIV sei kein Thema mehr. Aus Gewohnheit, weil es nichts Neues mehr ist und wir uns lieber vor dem spektakulären Ebola fürchten. Aber vor allem, weil auch wir uns nie so richtig wohlgefühlt haben beim Sprechen über diese Krankheit.
 

5000 JAHRE PATRIARCHAT

 

Es mag vielleicht tatsächlich zu viel verlangt sein, innerhalb weniger Jahrzehnte einen radikalen Wandel sozialer Strukturen zu erwarten. Eines ist jedenfalls sicher: Bei der Stigmatisierung rund um HIV/AIDS geht es vor allem um Sexualmoral. Daher das Tabu. Das bedeutet wiederum, dass die Krankheit und der Umgang mit ihr an den Grundfesten unserer Gesellschaft rüttelt. Solche Worte sind schnell einmal geschrieben, aber in diesem Fall darf man sie ruhig für bare Münze nehmen: Wenn wir Grundfesten schreiben, dann meinen wir das so. Denn auch wenn das 20. Jahrhundert mit Industrialisierung, Kapitalismus, Liberalismus und sexueller Revolution der tradierten Ordnung teils existenzielle Niederlagen beschert hat, ist es doch eine Illusion zu glauben, dass wir innerhalb weniger Dekaden 5000 Jahre Patriarchat überwunden haben. Und genau das ist der Kern jedes konservativen Gesellschaftsbildes, und die dazugehörige Sexualmoral ist dessen ultimative Bedingung.
 
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BIBEL, SHAKESPEARE, „GAME OF THRONES“

 

Wie das? Die soziale Herrschaft der Männer ist beileibe kein Naturgesetz, im Gegenteil. Sie ist auf ausgeklügelte Kulturtechniken angewiesen, allen voran auf eine recht strenge Regelung dessen, was sexuell erlaubt ist und was geächtet. Aus einem ganz einfachen Grund: Für die längste Zeit der menschlichen Zivilisationsgeschichte war es im Grunde unmöglich, den zweifelsfreien Nachweis für eine Vaterschaft zu erbringen. Der ist für Gesellschaften, die auf einer Vererbung von Macht, Status, Besitz und Identität über eine männliche Blutlinie aufbaut, aber essenziell. Alle, die sich schon mal mit der Bibel, Shakespeare oder „Game of Thrones“ beschäftigt haben, wissen, was es heißen kann, ein Bastard zu sein. Während die Mutter in der Regel eindeutig auszumachen ist, kann der jeweilige Samenspender jeder dahergelaufene Typ gewesen sein. Die einzige Möglichkeit, da Klarheit zu schaffen, sind strenge Gesetze gegen und drakonische Bestrafungen auf jegliches promiskuitive Verhalten. Wie sehr das mit dem Patriarchat zusammenhängt, kann man etwa bei Tacitus nachlesen. In seiner berühmten „Germania“ beschreibt der römische Historiker die sozialen Zustände bei den Germanen recht pointiert. Außer Krieg haben die Männer keine Aufgaben, koitiert darf werden, was das Zeug hält, und die Frauen haben Kinder von verschiedensten Männern. Ist aber egal, weil die Mütter die Clanchefs sind: Alles wird über die weibliche Linie vererbt.
 

GOTT IST DIE GESELLSCHAFT

 

Okay, mag man sich da denken, das klingt alles nach ausgedachten Gesetzen und so. Aber unsere tradierten sexuellen Wertvorstellungen – von Monogamie und Treue über die Ablehnung alternativer Varianten wie Analsex und Fellatio bis hin zu jeglicher Form von Homoerotik – sind doch keine bloßen Regeln, sondern moralische, religiös motivierte Angelegenheiten. Jeder, der solche reaktionären Ansichten rational ablehnt, aber beim exzessiven Rumvögeln trotzdem manchmal ein dumpfes Gefühl von Verkommenheit spürt, weiß, wovon hier die Rede ist: der wider besseres Wissen empfundene Gewissensbiss des Sodomiten, früher auch Sünde genannt. Dieser Wahrnehmung liegt aber nur die aufgeklärte Täuschung zugrunde, Religion und Moral seinen von rational entworfenen Gesetzen zu unterscheiden. In Wahrheit ist das ein und dasselbe. Die Religionssoziologie hat schon im 19. Jahrhundert festgestellt, dass wir, wenn wir Gott sagen, die Gesellschaft meinen. Das Prinzip dahinter ist nichts weiter, als ausgedachten Regeln zur Erhaltung von (Männer-)Herrschaft eine transzendente, spirituelle Legitimation zu verleihen – kurz: aus ihnen ein ewiges Gesetz zu machen, das von den jeweils gerade lebenden Menschen nicht so einfach ausgehebelt werden kann.
 
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STIGMA DER PROMISKUITÄT

 

Bei allem progressiven Bemühen hängt diese Sexualmoral auch den liberalsten Gesellschaften bis heute nach. Weil sie zu den Wurzeln unserer Kultur gehört, die sich ja bekanntlich als in jüdisch-christlicher Tradition stehend begreift. Salopp gesagt beruft sich unsere Zivilisation zu einem nicht unerheblichen Teil auf die Werte tribal organisierter Schafhirtenverbände aus der Bronzezeit, deren zeitloser Repräsentant ein männlicher, strafender Gott ist, der ganz genau darauf schaut, dass die Stammesväter zu ihrem Recht kommen. Nach Jahrtausenden dieser Tyrannei kommen wir dann daher, erfinden die Pille, den Vaterschaftstest und die sexuelle Revolution, vögeln knapp zwei Jahrzehnte herum wie die Karnickel und – Bämm! – springt so ein blödes Virus vom Schimpansen auf den Homo sapiens über und die Party ist vorbei. Schwuppdiwupp sind plötzlich all die überwunden geglaubten Komplexe wieder da. Weil eines ist recht schnell klar: HIV holt man sich in erster Linie beim Geschlechtsverkehr. Und zwar nicht, wenn man’s immer mit dem gleichen Partner oder Partnerin treibt. Im Sinne eines patriarchalen Moralempfindens handelt es sich bei HIV/AIDS tatsächlich um ein Stigma im wahrsten Sinne des Wortes. Die Infektion ist ein Zeichen, eine Art Schandmal und in dieser Logik auch Bestrafung für einen promiskuitiven Lifestyle. Hätte man brav nach den konservativen bürgerlichen Regeln gelebt, wäre einem das nicht passiert. Aus der Perspektive des Patriarchats ist die Immunschwäche ein Ausdruck von Gottes Zorn. Auch im übertragenen, säkularen Sinne: Gott ist ja nichts weiter als die personifizierte Ordnung der Gesellschaft.
 

SCHATTEN DER VERGANGENHEIT

 

Daher rührt auch die anfängliche Brandmarkung von HIV als Schwulenkrankheit. Die Ablehnung von Homosexualität seitens eines konservativen Mainstreams kommt in erster Linie daher, dass ein schwuler Lebensstil gewissermaßen die Quintessenz der Promiskuität darstellt und als solches eine ständige Bedrohung für die althergebrachte Männerherrschaft ist. Das hat nebenbei den paradoxen Effekt, dass es heute für Heteros oft bedeutend schwieriger ist, mit den sozialen Dimensionen der Krankheit umzugehen, als für Homosexuelle. Letztere haben nämlich seit jeher gelernt, damit zu leben, nicht Teil des patriarchalischen Mainstreams zu sein. Jetzt ist es natürlich nicht so, dass wir alle glauben, wir hätten es hier mit einer Strafe Gottes zu tun. Wir leben ja nicht im 19. Jahrhundert. Aber so ein gewisser Nachhall dieses Wertekomplexes stellt sich auch in unserer westlichen Gegenwart noch ein: dass man irgendwie Schuld hat, wenn man sich das Virus geholt hat. Und da wir kulturell nach wie vor meilenweit davon entfernt sind, offen über Sexualität jedweder Form sprechen zu können, haftet auch dem ganzen HIV-Thema noch immer ein gewisses Schmuddel-Image an, über das man ungern spricht. Weil wir unsere althergebrachte Sexualmoral mitnichten überwunden haben.
 
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HIV ALS GRADMESSER

 

Jetzt haben wir 2015, und man darf schon sagen, dass unsere westlichen Gesellschaften – was das Abschütteln der patriarchalen Traditionen betrifft – auf gar nicht so schlechtem Wege sind. Aber darüber hinweg sind wir noch lange nicht. Zumindest in vom Wohlstand gesegneten Teilen der Welt ist HIV/AIDS medizinisch bewältigbar geworden und hat sich von einem Todesurteil eher zu einer chronischen Krankheit entwickelt. Deshalb haben wir aber auch angefangen zu glauben, dass man nicht mehr darüber sprechen muss. Wir sind froh, dass dieses noch immer irgendwie anrüchige Thema vom Tisch ist. Aber das ist ein großer Fehler. Der einzig wirksame Weg zur Bewältigung des Problems ist ein offener, präsenter Diskurs darüber. Wer nicht weiß, was es ist, wer nicht weiß, dass er es hat, gibt es unwissentlich weiter. Aber das einfach nur zu predigen hilft nicht. Weil das Problem viel tiefer sitzt. Der Umgang mit HIV/AIDS ist in gewisser Weise ein Gradmesser dafür, inwieweit eine Gesellschaft sich vom Patriarchat befreit hat.
 

DARUM DIE #HIV HEROES EDITION

 

Wir von VANGARDIST verstehen uns als progressives Medium, das sich einer Lebenseinstellung jenseits von reaktionären Zwängen verschrieben hat. Wir begreifen jede Form von erotischen Präferenzen – egal ob homo oder hetero – seit jeher als selbstverständlich und gleichwertig. Viele Inhalte unseres Männermagazins sind schwul, und ein nicht unerheblicher Teil derer, die hinter VANGARDIST stehen, sind das ebenfalls. Von daher sind wir es gewohnt, aufzustehen und zu kämpfen. Wir haben aber auch erkannt, dass es keinen Sinn hat, sich als benachteiligte Minderheit zu gerieren. Aus diesem Grund machen wir ein Magazin, das ganz bewusst mit der Selbstverständlichkeit einer zeitgemäßen, offenen Haltung zu Sexualität und Geschlechterstereotypen umgeht. Wir setzen eine soziale Gleichberechtigung einfach kühn voraus. Diese Form von Selbstbewusstsein ist viel wirkmächtiger als selbstviktimisierendes Gejammer. Aus diesem Grund ist VANGARDIST auch Träger der #HIV HEROES Kampagne. Weil es einen offenen, unbelasteten Diskurs über HIV/AIDS geben muss
 


TEXT: KLEMENS GINDL
ILLUSTRATION: MAGDALENA WEYRER

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