Escapist Edition

Sichtbarkeit ist nicht genug: Marvyn Macnificent über Gender-Schubladen und Social Media-Pressure

“Bist du ein Junge oder ein Mädchen?” Marvyn Macnificent zählt zu den erfolgreichsten deutschen YouTubern der Gegenwart und identifiziert sich als nicht binär. Neben seinen populären Make-up-Videos ließ er erst in diesem Jahr mit einer Facial-Feminization-Operation aufhorchen. Doch gerade in der anonymisierten Social-Media-Welt dominieren unaufgeforderte Meinungsäußerungen und Diskriminierungen – wie kann man dieser Negativität entkommen? Ein Interview über das Leben außerhalb der binären Geschlechterrollen und die Flucht vor dem heteronormativen Schubladendenken.

VANGARDIST: Lieber Marvyn, erstmal vielen Dank für deine Zeit und dieses Interview. Die vergangenen Monate waren für viele sehr turbulent – wie würdest du dein bisheriges Jahr beschreiben?

Marvyn: Es ist geprägt von einer intensiven Selbstfindungsphase, viel Leidenschaft für Musik und Make-up sowie von wunderschönen Momenten mit meiner Familie und meinen Freund:innen. Ich würde behaupten, 2022 ist sehr gut zu mir! Ich bin kurz davor, ein riesiges Projekt zu launchen und kann gar nicht glauben, dass wir schon im September angelangt sind. Ich bin gespannt, was der Rest des Jahres noch für mich in petto hat.

V: Als non-binary Artist verschwimmen in deiner Arbeit die Grenzen der stereotypen Geschlechterrollen. Welchen Einfluss haben diese auf dein bisheriges Leben gehabt?

M: Menschen denken leider nicht nur gerne in Schubladen, sondern handeln auch danach. Seit der Grundschule werde ich täglich gefragt, ob ich nun ein Junge oder ein Mädchen sei. Das war immer darauf zurückzuführen, dass ich mich anders kleidete als andere Jungs. Es nahm mir die Freude, unbeschwert einfach so zu sein, wie ich nunmal bin. Egal wie toll der Support meiner Familie zu Hause war – der Alltag in der Öffentlichkeit war immer Horror für mich. Selbst als junger Erwachsener in der Social-Media-Branche habe ich schnell gemerkt, dass mir auch hier durch die Engstirnigkeit der Menschen Steine in den Weg gelegt werden. Selbst acht Jahre später sehe ich das immer noch so: Viele Marken springen auf den LGBTQIA+ Zug auf, machen einen auf divers und inclusive, nur weil sie es nach außen hin praktizieren müssen. Um angemessen entlohnt und auch außerhalb einer Pride-Kampagne gebucht zu werden, reicht es für queere Künstler:innen allerdings meistens nicht. 

 V: Du hast dich in diesem Jahr einer Facial Feminization Surgery unterzogen – also einer Operation, durch die mithilfe der Veränderung einzelner Gesichtszüge dein Gesicht als Gesamtes „weicher“ erscheint. Wie geht es dir damit?

M: Durch die Gesichts-OP fühle ich mich in der Tat mehr wie ich selbst. Mein Äußeres wurde nach meinem Empfinden an mein Inneres angepasst, und ich sehe nun mehr ‚mich selbst‘ im Spiegel als davor. Das ist die einfachste Antwort, die ich geben kann. Auf meinem YouTube-Kanal gibt es eine sehr ausführliche Erläuterung, allerdings würde diese hier den Rahmen sprengen. Meiner Meinung nach sollte einfach jede:r so leben, wie er:sie mag. Deshalb habe ich mich auch dazu entschieden, alle meine Entscheidungen und mein ganzes Leben zu teilen – nicht nur die Ausschnitte, die auf möglichst wenig Gegenwind stoßen würden.


“Es bringt nichts, mein Leben nach den Vorstellungen und Erwartungen anderer zu gestalten.”  


V: Deine Geschlechtsidentität ist nicht binär – im Laufe deiner YouTube-Karriere hast du auch deine persönliche Entwicklung und gewissermaßen dein Entkommen aus dem binären Käfig dokumentiert. Wie würdest du deine Identitätsfindung rückblickend beschreiben?

M: Ich denke, es ist wichtig, dass man jeder Person den Raum gibt, sich frei zu entfalten und sich selbst zu finden. Manchmal braucht man mehrere kleine Schritte dafür. Man weiß nicht sofort, wer man ist, nur weil man sich mal ein paar Tage Zeit nimmt und in sich geht. Das Ganze ist ein Prozess – und so würde ich es bei mir auch beschreiben. Ich finde es schön, so viel davon auf meinen Social-Media-Kanälen geteilt zu haben, dass andere vielleicht genau dieses Verständnis aufbauen und möglicherweise auch selbst Nutzen daraus ziehen können.

V: In deinen Videos und auf deinen Social-Media-Kanälen zeigst du immer wieder sehr private Seiten von dir. Kritische Stimmen und negative Kommentare, die teilweise auch untergriffig, beleidigend oder diskriminierend sind, lassen da nicht lange auf sich warten. Wie schaffst du es, diese Negativität auszublenden?

M: Es bringt definitiv nichts, mein Leben nach den Vorstellungen und Erwartungen anderer zu gestalten. Daher lassen mich negative Kommentare kalt, denn sie erreichen mich gar nicht. Ich habe mir ein positives Umfeld mit Menschen geschaffen, die mich so akzeptieren und lieben, wie ich bin – und in erster Linie muss ich das auch selbst tun.

V: Du hast dir vor der OP über den Sommer eine Pause genommen und dich auf den Kanälen im Vergleich zu sonst eher zurückgehalten. Wie groß ist der Druck, ständig Content produzieren zu müssen?

M: Der Druck ist schon enorm hoch, besonders wenn Social Media vom Hobby zum Beruf wird. Die Plattformen haben ihre eigenen Algorithmen, die ganz genau bemerken, welcher Account mal eine längere Zeit nicht postet. Da das natürlich verhindert werden soll, werden solche inaktiven Accounts “bestraft” – wodurch dein Content weniger an deine Abonnent:innen oder neue potenzielle Follower:innen ausgespielt wird. Da dies für berufliche Content Creators natürlich weniger Einkommen bedeutet, trauen sich viele nicht mal, eine Pause einzulegen – aus Angst, dass es danach nicht mehr läuft.

V: Wie gehst du mit diesem Druck um?

M: Nach meiner OP habe ich mich erst langsam wieder an Social Media gewagt. Die dreimonatige Pause davor hat mich dazu gebracht, wieder eine Leidenschaft dafür aufzubauen. Dennoch wollte ich mich nicht direkt wieder stressen und 100 Prozent auf allen Plattformen geben, denn ich weiß, wie schnell so etwas zu einem Burnout führen kann. Daher habe ich beschlossen, es langsam anzugehen und erstmal Schritt für Schritt meinen Content auf den Plattformen zu veröffentlichen. Ich betreibe Social Media nun schon seit knapp acht Jahren beruflich und habe verstanden, dass man gerade in diesem Business ganz allein für sich und seine Gesundheit verantwortlich ist. Mit meiner momentanen Arbeitsweise bin ich daher sehr zufrieden und versuche so, eine gute Balance zu halten.

V: Wie können wir als Gesellschaft der nach wie vor herrschenden Heteronormativität entkommen? Welche Schritte kann jede:r Einzelne von uns tun?

M: Entscheidend ist, im Austausch miteinander zu sein und sich gegenseitig aufzuklären. Zudem müssen deutlich mehr Menschen aus der Community in allen möglichen Bereichen vertreten und sichtbar sein! Wobei es nicht reicht, nur gesehen zu werden – sie müssen auch einflussreiche, wichtige Positionen in der Geschäftswelt einnehmen. Es braucht mehr sichtbare Schnittstellen in der Gesellschaft mit queeren Personen – und zwar in den unterschiedlichsten Bereichen –, damit sich auf Dauer etwas zum Positiven verändert. Nur so können auch Menschen abseits der Heteronormativität wirklich in der Mitte der Gesellschaft ankommen.

V: Vielen Dank, lieber Marvyn!

CREDITS

Editor
Robert Altenbacher | @robert_altenbacher

Pictures
Can Günaydi | @justcaan



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