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„Ich hab gehört, dass Dating-Plattformen wegen Corona jetzt auch bald gesperrt sind. Gut so!“ Diesem Kommentar, den ich unter einem der zahllosen Zeit im Bild-Posts meiner von COVID-19 durchzogenen Timeline fand, kann man zwei Dinge entnehmen. Erstens: Die Krise liefert (wenig überraschend) einen perfekten Nährboden für Fake-News. Zweitens: Was weniger offensichtlich durchschimmert, doch gerade für unser Sozialverhalten weitreichende Folgen hat, ist die steigende Wut über die Unvernunft anderer Personen. Welche Folgen hat das für unser gesellschaftliches Miteinander?
„Kann ja wohl nicht so schwer sein daheim zu bleiben. Ich schaff’s ja auch!“ Diese Ich-Form der Erzählung sehnt sich im Moment ganz besonders stark nach einem Wir-Gefühl. Die Vorstellung der Leute, dass alle anderen genauso den ganzen Tag zuhause vor dem Fernseher hocken und an den Lippen der N24-Moderatoren hängen, löst in vielen den Drang aus, all diejenigen, die das nicht tun, zu verurteilen. Manchmal tun sie das heimlich im Privaten der eigenen Isolation, doch viel zu häufig schreien sie es durch die Weiten von Facebook und Instagram und schüren dabei einen beängstigenden Nationalstaatsgedanken. „Wir“ sind eine Insel, „Wir“ bleiben getrennt, „Wir“ gehen nicht mehr auf Grindr-Dates.
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Ob die Corona-Krise nun tatsächlich zu einer politischen Deglobalisierung führen wird, bleibt abzuwarten. Doch zumindest unser eigener Haushalt wird bereits jetzt zur Minimundus-Abbildung dieses eigenstaatlichen Gedankens. Während wir also vom Balkon aus die Menschenansammlungen auf der Straße schnippisch kommentieren, sind wir uns der Souveränität unseres eigenen Handelns (also unseres eigenen Staates) bewusst. Zwischen Balkon und Straße liegt also nur ein autonom kreierter moralischer Höhenunterschied. Eine Klassengesellschaft, in der sich der Pöbel vom erhabenen Balkon aus hervorragend beschimpfen lässt – alles natürlich unter dem Deckmantel der Vernunft.
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Wir sitzen alle im selben Boot, aber nicht an der selben Stelle. Manche können entspannt den Horizont beobachten, andere haben zu wenig Hände um all die Löcher am Boden gleichzeitig abzudichten. Das Wichtigste in dieser Situation ist also, sich des eigenen Privilegs bewusst zu sein und dementsprechend besonders tolerant gegenüber Mitmenschen zu agieren. Auch außerhalb der eigenen Umgebung. Das gilt nicht nur für die körperlich Kranken und Alten, sondern auch für diejenigen, die mit dieser belastenden Situation anders, vielleicht sogar „unverünftig“ umgehen. Dies ist natürlich in keinem Fall als Appell zu verstehen, die Aufforderungen der Regierung nicht ernst zu nehmen. Viel mehr ist es als Plädoyer für all diejenigen, die das einfach nicht können. Das Bewusstsein darüber, dass Fake-News existieren, verhindert nicht deren Verbreitung. Das Bewusstsein darüber, dass es im Moment vernünftig wäre, nicht auf Online-Dates zu gehen, verhindert nicht, dass es dennoch viele tun. Und wenn du es machen willst, dann mach es!
Text: Christoph Huber
Header: Ethan Sikes/Unsplash