Rebirth Edition

Chapter 12: Diese Engel retten das Land: Im Interview mit No Angel Jess über neue Girlpower und die Reunion

Innerhalb der ersten fünf Sekunden „Daylight“ wandeln fast alle 90er Kids ihr Wohnzimmer in eine Konzerthalle um, springen auf der Couch auf und ab, performen für ihr imaginäres Publikum und schweben in der Pop-Nostalgie. Als sich die No Angels 2003 trennten, brachen sie damit die Herzen vieler Fans. Was blieb, war die Erinnerung an fünf Frauen, die Girl Band und Girl Power einten und damit zu einem Phänomen der deutschen Popkultur wurden. Sie forderten ihren Platz auf internationalen Bühnen ein und erkämpften damit eine Plattform für Frauen in der deutschen Musikbranche. Anlässlich ihrer Reunion haben wir mit No Angels Mitglied Jessica über Female Empowerment, das neue Album und ihre Rolle in der LGBTQIA+ Community gesprochen…

©Ben Wolf

Für viele Fans ist eure Reunion eine Art Wiedergeburt der eigenen Jugend. Eine Erinnerung an zuckerwatten-süßen Vodka Punsch, bitteren Herzschmerz, silbernen Lidschatten und alten Freundschaften. Wie fühlt es sich für dich an, wenn ihr im Tonstudio nebeneinander steht?

Im Grunde fühlt es sich komplett anders an, da wir das Album „20“ getrennt voneinander aufnehmen müssen. Leider lässt es die Momentane Corona-Lage nicht anders zu – und Sandy lebt in Los Angeles, Lucy in Bulgarien. Es fehlt natürlich sehr, die Ladies an meiner Seite zu haben, da wir uns im Studio gut supportet haben. Aber Gott sei Dank sind wird bald wieder gemeinsam unterwegs.

Wie definierst du Female Empowerment vor dem Hintergrund deiner Girl Band Karriere?

Ich denke es ist ganz gleich, welchen Hintergrund man wählt. Female Empowerment ist immer eine Sache von Zusammenhalt und Unterstützung. Gemeinsam Stärken erkennen und sie nach vorne bringen bzw. nach außen tragen. Durch die Band habe ich, oder besser gesagt haben wir, eine Möglichkeit, diese Message unter die Leute zu bringen.


“Es ist wie eine Beziehung, wo keiner wirklich den Schlussstrich gezogen hat. Jetzt haben wir eine Möglichkeit, alles aufzuarbeiten.”


Ihr durchlebt nach 20 Jahren Pause gerade euren zweiten Karrierestart. Würdest du diesen Moment als neues Kapitel beschreiben oder als Fortsetzung eurer Geschichte von damals?

Ich empfinde es als eine heilende Reise. Auf dem Weg bis heute ist durch das Business bei mir schon einiges angeknackst oder sogar kaputt gegangen. Die Musikbranche ist nicht leicht. Das hat sich bestimmt auch auf die anderen ausgewirkt. Wir hatten nie einen richtigen Abschluss. Es ist wie eine Beziehung, wo keiner wirklich den Schlussstrich gezogen hat. Jetzt haben wir eine Möglichkeit, alles aufzuarbeiten. Für mich ist es eine tolle Erfahrung.

Ihr habt gezeigt, dass man eine Gruppe von Freundinnen sein kann, während man gleichzeitig sein Individuum bleibt. Wie kann man innerhalb einer solchen Popstar Karriere das eigene Wesen beibehalten? Hat sich die Beziehung zwischen euch mit den Jahren geändert?

Ich glaube ja, dass sich das eigene Wachsen geformt und die Persönlichkeit immer in den Jahren weitergebildet hat, in denen wir nicht zusammen waren. In den Band-Jahren haben wir alles aufgesogen und später verarbeitet und für uns genutzt. Gerade in der letzten langen Pause haben wir uns als Frauen gefunden und wissen, wo wir im Leben stehen. Das kommt uns zugute.

Mit der Neuaufnahme von „Daylight“ ersetzt ihr eure Stimmen von damals mit den Stimmen von heute. Welchen anderen Dingen würdest du heute gerne deine Stimme geben, die du damals eher unkommentiert gelassen hast?

Das ist natürlich aus heutiger Sicht schwer zu sagen. Damals war eine andere Zeit und ich sehr jung. Ich habe mich mit anderen Themen beschäftigt als heute. Aber im Grunde denke ich, dass die Themen Black Lives Matter, ‚Feminismus‘ oder auch LGBTQIA+ immer eine Rolle spielen.

Songs wie Daylight sind zu echten Gay-Hymnen geworden und lieferten der deutschsprachigen LGBTQIA+ Szene eine Pop-Band aus dem eigenen Land. Bist du dir dessen bewusst und wenn ja, gab es einen Moment, in dem du realisiert hast, welche Rolle ihr in dem Leben der Community spielt?

Mittlerweile ist es mir bewusst. Ich bin immer wieder erstaunt, welch große Rolle die Band in manchen Leben gespielt hat. Ich bekomme oft heute noch Nachrichten, in denen mir erzählt wird, dass die Musik der No Angels eine Hilfe, Stütze und ein Zufluchtsort war. Das berührt mich sehr und macht mich auch stolz. Ich bin froh, dass wir das Leben für einige Menschen vielleicht ein bisschen leichter machen konnten.

Wie kann man in eurer Position für die LGBTQIA+ Community einstehen und die Energie, die damit einhergeht, kanalisieren?

Ich glaube, indem wir so sind, wie wir sind – und auch immer schon waren. Bunt gemischt, weltoffen und voller Liebe für alle, die mit uns auf die Reise gehen wollen.

Siehst du mit deiner heutigen Lebenserfahrung auch eine Chance, die Message des Female Empowerments bestimmter senden zu können als damals?

Nein, ich denke die Message ist und war immer gleich: Unterstützt euch und seid füreinander da. Auch in Solo-Zeiten blieb diese Message unverändert. Die Verbindung, die zwischen uns ist, ist nicht selbstverständlich. Es hätte auch alles anders kommen können – aber Gott sei Dank ist es das nicht. Wir sind Familie und gleichzeitig auch Freundinnen.


“Früher waren es „nur“ Songs,
jetzt sind es Geschichten, die mit Leben gefüllt sind.”


In euren Alben geht es sehr viel um Nostalgie und Vertrautheit. Gibt es auch Dinge, die dich bei der Neuaufnahme der Songs überrascht haben?

Alle Songs, die wir für das Jubiläumsalbum „20“ aufnehmen, sind ganz besonders für uns. Natürlich sind auch Songs dabei, mit denen schmerzliche Erinnerungen verknüpft sind. Aber deswegen schrecken wir davor nicht zurück. Wir tauchen tief ein in die Vergangenheit und ab und zu rollt dann auch mal ein Tränchen – aber das ist gut so. Früher waren es „nur“ Songs, jetzt sind es Geschichten, die mit Leben gefüllt sind.

Zuletzt müssen wir natürlich fragen:
Was können die Fans von euch neben dem Album „20“ erwarten?

Im Moment konzentrieren wir uns nur auf das Album. Diese ganze Welle der positiven Resonanz hat uns tatsächlich von den Socken gehauen. Wir planen nach und nach und schauen was möglich ist. Eins steht aber fest: Dieses Jahr feiern wir 20 Jahre No Angels und das Album wird großartig – mit alten und sogar neuen Songs.

Die No Angels verstehen sehr gut, was sie ihren Fans bedeuten. Sie wissen, dass man sich mit ihnen an die verlorene erste Liebe erinnert und bittersüße Andenken seiner Jugend abermals durchlebt. Das Pop-Äquivalent einer alten Flamme, die dir auf einmal bei Facebook eine Freundschaftsanfrage sendet. Doch statt so zu tun, als hätte sich in den 20 Jahren nichts verändert, zelebrieren die No Angels ihre Rebirth mit einem zeitgemäßen Album „20“.



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