Pussy Edition

Chapter 10: Breaking The Matrix

Wenn es um Männlichkeit geht, ist Fabian Hart (@fabianhart) sofort zur Stelle, um vorherrschende Bilder zu zertrümmern. Der Journalist befasst sich in seinem Podcast „Zart Bleiben“ intensiv mit dem fragilen Konzept von Männlichkeit und plädiert für eine Gesellschaft fernab des binären Geschlechtersystems. Im Gespräch mit Vangardist erklärt Fabian, wieso wir uns so schwer damit tun, feminin gelesenes Verhalten zu zelebrieren, warum schwule Männer oftmals die gleichen Diskriminierungserfahrungen machen wie Frauen und wie er selbst jeden Tag aufs neue lernt, seine als weiblich geltenden Aspekte zu umarmen.

Fabian, als ich dir von unserer aktuellen Ausgabe erzählt habe, ging mir unser Titel schwer über die Lippen: Irgendwie fühle ich mich nicht so wohl mit dem Begriff „Pussy“. Ich habe mich dann daran erinnert, wie mich früher meine Klassenkamerad:innen damit beschimpft haben. Das scheint wohl Spuren hinterlassen zu haben.

Das zeigt doch sehr gut, mit wie viel Scham und Abwertung der Begriff „Pussy“ behaftet ist. Da gibt es natürlich erst einmal den misogynen Aspekt: Weiblichkeit wird gesellschaftlich abgewertet. Und in deinem Fall dann natürlich das Trauma, in der Jugend selbst durch diesen Begriff „entmännlicht“ und diskriminiert worden zu sein. 

Wieso ist denn alles Weibliche automatisch negativ konnotiert?

Das liegt daran, welche Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit in unserer Gesellschaft nach wie vor existieren: Männlichkeit ist durch Stärke definiert, wettbewerbsorientiertes Verhalten, Durchsetzungskraft, Männer sind in Führungspositionen und Frauen gegenüber wirtschaftlich überlegen. Das ist auch 2021 noch so. Femininität hingegen wird noch immer mit Schwäche in Verbindung gebracht. Schwäche, Sanftheit, „Soft Skills“ werden als unmännlich bewertet und damit zwangsläufig als negativ empfunden. Das verdeutlicht der Pussy-Begriff: Es gibt zig Schimpfworte, die Begriffe für das weibliche Geschlechtsorgan sind, wie etwa das F*-Wort, Pussy oder Muschi. Aber auch Begriffe wie Hurensohn sind misogyn. Da wird die Sexarbeiterin diskriminiert, nicht aber der Mann, der sie bezahlt. Auch den Schambereich verstehen wir eher als Begriff, der sich auf Frauen, bzw. weiblich gelesene Personen bezieht.


“Männlichkeit ist nicht dasselbe wie Mann sein.”


Also sind wir Männer schuld an der Unterdrückung der Frau? 

Nicht alle Männer per se, sondern Männlichkeit, also die die gesellschaftlichen Erwartungen an Männer und männlich gelesene Personen. Männlichkeit ist nicht dasselbe wie Mann sein. Das eine beschreibt die Geschlechtsidentität, das andere ist einfach nur ein Sammelbegriff für alle Eigenschaften, die unsere Gesellschaft männlich gelesenen Personen zuschreibt. Männlichkeit ist ein ganzer Anforderungskatalog und im Kern die stete Ablehnung von allen Eigenschaften, die als weiblich gelten. Und dem kann sich niemand entziehen: Wir wachsen alle mit dieser Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit auf.

Wenn wir das jetzt auf meinen Erfahrungen in der Schule übertragen: Hat mich dann der Begriff „Pussy“ als Beleidigung so getroffen, weil er mich eben “entmännlicht hat?

Dir wurde in dem Moment Männlichkeit abgesprochen. Weil du vielleicht nicht typisch männlich performt hast, keinen Bock auf Fußball hattest, kein „Weiberheld“ warst oder „breit gebaut“, etc. „Pussy“ ist dann ein Ausdruck für „Verweichlichung“ und das Scheitern. Auf der anderen Seite bedeutet „Eier“ haben immer eine Aufwertung. Selbst für Frauen!

Ehrlich gesagt ärgere ich mich über mich selbst, weil ich meine femininen Seiten einfach nicht so annehmen kann, wie ich das gerne würde.
Bestes Beispiel: Ich „ertappe“ mich manchmal dabei, wie ich mit verschränkten Beinen dasitze und mache dann bewusst manspreading. Als müsste ich mir selbst beweisen,
dass ich ein „echter“ Kerl bin – schwul hin oder her.

Von Frauen bzw. weiblich gelesenen Personen wird erwartet, dass sie ihre Beine überkreuzen und ihre Scham bedecken, während es für männlich gelesene Personen normal ist, viel Raum für sich einzunehmen. Der Cameltoe in der Hose ist ein großer Fashion-Fauxpas, manspreading aber ein völlig legitimes Beweisen und Präsentieren männlicher Geschlechtsorgane. Du nimmst überkreuzte Beine automatisch feminin wahr und hast ein Problem damit. Schwule Männer und Frauen machen tatsächlich sehr ähnliche Diskriminierungserfahrungen – Femininität wird als Schwäche ausgelegt, als Unterlegenheit. Und Homosexualität ist damit schließlich eine Art Todesstoß für traditionelle Männlichkeit.

Wie darf ich das verstehen?

Naja, weil du dich als schwuler Mann – der gesellschaftlich das Privileg hat, das starke Geschlecht zu sein – durch deine Sexualität zum „schwachen Geschlecht degradierst“. Deshalb ist Homophobie auch immer mit Frauenfeindlichkeit verknüpft. In den allermeisten Fällen kommen homophobe Äußerungen ja auch von Männern.


“Ich denke, niemand kann sich so einfach diesen Geschlechterrollen entziehen.”


Denkst du, ich versuche dann meine Homosexualität auszugleichen,
indem ich besonders auf meine eigene Männlichkeit achte?

Ich denke, niemand kann sich so einfach diesen Geschlechterrollen entziehen. Wenn du aufwächst, irgendwann feststellst, dass du schwul bist und dann sogar den Mut hast, das auszuformulieren, dann kann es doch sein, dass du noch mehr versuchst, traditionellen Männlichkeitsanforderungen gerecht zu werden. Zum Beispiel, indem du ins Gym rennst, um äußerlich möglichst stark und männlich, also als „richtiger Mann“ durchzugehen – in der Hoffnung, dass dir dein Umfeld dann eher verzeiht, dass du schwul bist.

Das finde ich einen spannenden Gedanken. Ich bringe hier mal das Buzzword Toxic Masculinity mit rein – das ist in dieser Vangardist-Ausgabe schon öfter gefallen. Aber eine Sache finde ich dabei besonders paradox: Diese Hypermaskulinität wird nach meiner Erfahrung ja gerade unter schwulen Männern total zelebriert. Stichwort Masc 4 Masc oder straight acting. Ich habe eigentlich den Anspruch, dass wir schwulen Männer besonders „woke“ sein müssen und dieses Konzept der toxischen Maskulinität dekonstruieren sollten.

Trotzdem wachsen wir alle mit derselben Definition von Männlichkeit auf, wir alle haben das binäre Geschlechtersystem verinnerlicht, auch als queere Personen, als homosexuelle Männer. Es ist nicht so einfach, diese „Matrix“ zu durchbrechen. Niemand erhält automatisch mit der eigenen Erkenntnis queer zu sein, eine Art Superkraft, sich dieser traditionellen Geschlechterordnung und Zuschreibungen zu widersetzen. Diesen Mut und auch Pride zu entwickeln, einem heteronormativen Weltbild zu entgegnen, das setzt eine radikale Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, aber eben auch mit dieser Gesellschaftsordnung, voraus. 

In deinem Podcast „Zart Bleiben“ sprichst du dich dafür aus, dass wir unsere Geschlechterrollen hinter uns lassen sollten. Scheiterst du denn nicht selbst auch manchmal daran, mit diesen ganzen Erwartungen der Gesellschaft zu brechen?

Es ist die eine Sache, sich dieser Problematik bewusst zu sein und etwas anderes, das dann auch immer umzusetzen. In meinen Zwanzigern bin ich auch ins Gym gerannt und habe versucht mich aufzupumpen, weil ich nicht länger als „Lulatsch“ gesehen werden wollte. Erst in meinen Dreißigern habe ich für mich gelernt, feminin gelesenes Verhalten, Gefühle oder Eigenschaften zu umarmen. Es ist ein Prozess, die Geschichte vom ewig starken Geschlecht zu überwinden und nicht ständig zu versuchen, andere davon zu überzeugen, dass man ein „richtiger Kerl“ ist. Männlichkeit muss ja ständig bewiesen werden.

Um jetzt nochmal auf den Begriff „Pussy“ zu sprechen zu kommen: Was wäre denn eine Utopie, wie wir diesem Wort seine negative Schlagkraft nehmen können?

Der erste Schritt liegt darin, zu erkennen: Okay, diese ganzen Geschlechterbilder sind hauptsächlich angelernt. Wir müssen die Scham überwinden, Dinge zu tun, die gesellschaftlich als feminin bewertet werden. Im femininen Verhalten steckt nichts Degradierendes. Weiblichkeit ist nicht gleichzusetzen mit Schwäche. Es ist ganz im Gegenteil der notwendige Ausgleich zu all den Eigenschaften, die uns als „männlich“ verkauft werden. Zu all der Härte und Verpanzerung: Männlichkeit hat definitiv ein Dominanzproblem. Ob physisch – Thema häusliche Gewalt – bis hin zu Sprache. Weshalb ist das generische Maskulinum Tradition unserer Sprache, aber gleichzeitig ist die Umkehr, also etwa mit „Leserinnen“ alle Männer „mitzumeinen“, ein Affront? Und wo wir von Umkehr sprechen: Es gibt in der queeren Community seit einiger Zeit den Begriff „Bussy“, also „Boy Pussy“. Dieser Begriff entmächtigt „Pussy“ als Schimpfwort, und unterzieht es einem Bedeutungswandel. Der selbst gewählte Begriff stellt das Machtverhältnis vom Mann als Aggressor im Bett infrage, der niemals „empfängt“, sondern immer penetriert und dominiert. Gleichzeitig enttabuisiert „Boy Pussy“ homosexuellen Analverkehr, der ja auch schambehaftet ist und vor allem von heterosexuellen Männern als Abwertung gegenüber schwulen Männern herhalten muss – obwohl heterosexuelle Männer nicht mehr oder weniger darauf stehen. Geschlecht ist also immer auch Performance und die eigentliche Freiheit beginnt, wenn man von der angelernten Choreographie ablässt, entgegen aller Erwartungen und Anforderungen.

Mehr davon findest du in Fabians Podcast “Zart Bleiben” auf Spotify:

Photos: Thomas Gibbons, Peter Do


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