Eine Identität ist wie ein Mantel, den wir tragen und nie gelernt haben abzulegen. Die Frage, ob wir ihn eigentlich selbst angezogen haben, oder ob er uns von anderen übergeworfen wurde, veranlasste Künstler:in Anouk Lamm Anouk (@anouklammanouk, they/them) dazu, ihn gänzlich abzustreifen und die Frage nach Identität durch deren Kunst statt durch binäre Geschlechterrollen zu beantworten. Anouk ist ein:e in Wien schaffende Künstler:in, in deren Werken sich vor allem Tierwesen wiederfinden, die die Abwesenheit eines von Menschen gemachten Systems darstellen. In der aktuellen Soloausstellung “post/pre Lesbian Jazz” im Hotel Sacher zeigt Anouk diese Kunst – ein symbolisches Zusammenspiel aus traditionellem Hintergrund und progressiver Gesellschaftskritik, die unser aller Leben widerspiegelt. Anouk Lamm Anouk nahm uns mit auf ihre Reise zu No Age, No Gender, No Origin.
Anouk, deine Instagram-Bio sagt: No Age, No Gender, No Origin. Damit nimmst du bewusst jene Labels weg, die Menschen oft als identitätsstiftend ansehen. Woran machst du deine Identität fest, wenn diese klassischen Labels für dich wegfallen?
Ich denke, ich versuche möglichst wenig ,festzumachen‘ und zu wissen, weil ich fühle, wer ich bin, was meine Seele ausmacht und in welcher Weise ich mein Ich lebe. Für die Entwicklung offen sein. Ohne Zuschreibungen. Ich sein, frei von äußeren Zuschreibungen. Das ist eine Herausforderung. Aber erst seit ich in keiner Weise versuche, irgendwelchen Erwartungen gerecht zu werden, kann ich meine wahre Identität in vollen Zügen, in ganzer Authentizität leben.
Was verstehst du unter Identität, wie wichtig ist sie dir und wie lebst du sie aus?
Ich denke, am wichtigsten ist es, sich selbst zu kennen. Lange habe ich nicht verstanden, wieso mir wiederholt ,Andersartigkeit‘ zugeschrieben wurde. Meine Antwort darauf war: „Wir sind doch alle anders, das macht das Individuum aus.“ Ich musste erst erwachsen werden, um zu verstehen, was Personen mir damit sagen wollten. Schon als Kind war ich nicht in der Lage, mich anzupassen. Dadurch habe ich mich auch nie als Teil von etwas gefühlt, sondern war ein recht in sich gekehrtes Kind, das immer schon von Seelenverwandten träumte. Identität erscheint mir in erster Linie internal wichtig. Sehe dich, erkenne dich, kenne dich. Bei sich zu sein ist die Basis für Ausgeglichenheit. Wenn ich einfach bin, dann kann ich auch im Außen einfach sein und zu mir stehen. Das ist meine Vorstellung vom Leben und Zeigen der Identität.
Ist die künstlerische Identitätsfindung ein längerer Weg als die persönliche Identitätsfindung oder bedingen sich diese beiden Aspekte?
Mein Bauch und mein Herz sagen, diese beiden Aspekte bedingen einander. Dennoch denke ich, dass man zu verschiedenen Zeiten ankommen kann.
Hast du das Gefühl, dass in der Kunstszene ein größeres Verständnis
für Non-Binarität herrscht?
Ein größeres Verständnis als in konservativen Lebensrealitäten definitiv. Dennoch hat auch die Kunstbranche noch enormes Potenzial nach oben. Im Jahr 2021 muss man sich auch in der Kunstszene noch anhören: „Du hast den Preis halt gewonnen, weil du eine Frau bist.“ Das ist auf verschiedenen Ebenen problematisch. Solche Aussagen kommen häufig auch von anderen queeren Personen. Es ist seltsam, aber die überwiegende Unterstützung auf meinem Karriereweg ist bisher von heterosexuellen Personen – insbesondere heterosexuellen Frauen gekommen.
„Es ist keine Entscheidung, ob man cis, trans, nichtbinär etc. ist. Dementsprechend kann man sich auch nicht umentscheiden.“
Deine Kunst stellt den Wandel verschiedener Identitäten dar. Gab es einen bestimmten Punkt in deinem Leben, an dem du gemerkt hast, dass binäre Geschlechterrollen für dich nicht funktionieren?
In meinem Kopf herrschte wohl bereits im Kindergarten das Matriarchat vor. Meine Beobachtungen lehrten mich, das Weibliche hoch zu schätzen. Mädchen waren sanft und empathisch. Jungen hingegen in den meisten Fällen verzichtbar bis tatsächlich störend. Bis auf meinen Vater, der stets fürsorglich und toll war, obwohl er so viel gearbeitet hat. Nun hatten meine Beobachtungen also ergeben, dass Frauen über Männern stehen, das Göttlichere, Erhabenere sind. Und so bin ich fortan durch die Welt gegangen. Eigentlich hat sich das bis heute nicht groß verändert. Trotz meines hohen Bilds des Weiblichen wurde mir mit zehn Jahren klar, dass ich wohl ein Mädchen bin und diese sich früher oder später zu Frauen entwickeln, was ich um keinen Preis wollte. Dieses Wissen hat eine große Krise in mir ausgelöst. Das Einzige, was mich beruhigen konnte, war, wenn meine Mutter sagte: „Wenn du das nicht willst, dann musst du es nicht werden.“ Das war sehr schön, nur gab es offiziell nichts neben der Binarität. Das war eine sehr bittere Erkenntnis. Jahrelang habe ich in einem Überlebensmodus funktioniert. Seele von Körper getrennt. Manisch Kunst produziert und sonst nur versucht, eine Lösung für dieses Dilemma zu finden. Denn eines war klar: In diesem falschen Körper konnte ich nicht glücklich werden und auch nicht überleben. Es ist keine Entscheidung, ob man cis, trans, nichtbinär etc. ist. Dementsprechend kann man sich auch nicht umentscheiden. Nichts wäre mir lieber gewesen.
Würdest du sagen, dass Social Media dabei hilft, die eigene künstlerische Identität zu finden, oder erschwert es eher, sich künstlerisch auszudrücken?
Meine eigene Handschrift habe ich vor der regen Nutzung von Social Media gefunden. Wenn ich mir vorstelle, heute wieder heranzuwachsen und mit dieser ganzen Reizüberflutung den Fokus auf das Innere finden zu müssen, dann stelle ich mir das sehr schwierig vor. Generell denke ich, dass soziale Netzwerke eine sehr negative Auswirkung auf Konzentration und Persönlichkeitsentwicklung haben, da es hier um das Gegenteil von Individualität geht. Individualität kannst du dir eigentlich erst leisten, wenn du schon an einem gewissen Punkt stehst, egal ob im realen oder digitalen Leben.
„Menschen, die in der Kunstwelt so nie angekommen wären, stoßen bei der breiteren Bevölkerung durch Social Media auf Bewunderung. Klassische Künstlerpersonen hingegen scheitern wiederum oft an Instagram.“
Damit junge Künstler:innen gehört und bekannt werden, ist eine Online-Präsenz unerlässlich. So sehr, dass man sich manchmal fragt, ob die individuelle Social-Media-Präsenz der Künstler:innen mittlerweile wichtiger ist als die Kunst selbst. Wie siehst du das?
Ich denke, es gibt Künstler:innen, die durch die geschickte und zeitgeistige Nutzung sozialer Netzwerke sehr viel Präsenz bekommen haben, auch wenn ihr Œuvre recht dünn ist. Spannend wird es nun, zu beobachten, wie und ob sich diese Positionen weiterentwickeln können. Generell sehe ich aber, dass es nicht nur einen Weg gibt. Es gibt viele Möglichkeiten, um das Fundament für einen guten Werdegang aufzubauen. Das Wichtigste ist wohl, einen authentischen Weg für sich zu finden. Denn fehlende Authentizität führt zu keiner fundierten, andauernden Karriere.
Inwiefern hat Social Media die Kunst und die Selbstdarstellung
von Künstler:innen verändert?
Die Antwort auf diese Frage fällt mir gar nicht so leicht. Durch soziale Medien können Menschen sich und ihre ,Kunst‘ vermarkten und einen branchenunabhängigen Erfolg haben. Menschen, die in der Kunstwelt so nie angekommen wären, stoßen bei der breiteren Bevölkerung nun auf Bewunderung. Klassische Künstlerpersonen hingegen scheitern wiederum oft an Instagram, da einigen diese Form der Präsenz oder gar Vermarktung völlig gegen den Strich geht. Und dann gibt es Künstler:innen, die sehr geschickt damit umzugehen wissen und soziale Medien als Werkzeug ihres Karriereaufbaus sehen und verwenden.
„Menschen, die es nie in ernstzunehmende globale Kunsthallen schaffen, überholen etablierte Künstler:innen nun mit ihren Follower:innen.“
Vor dem Internetzeitalter bestimmten Kunstkritiker:innen den Wert von Kunst. Heute ist Instagram eine außergewöhnliche Möglichkeit, Kunst zu entdecken, zu fördern und zu kritisieren. Erlebst du einen Unterschied zwischen dem realen Austausch mit kunstinteressierten Menschen und dem Austausch auf Social Media?
Gerade bei meinen ersten Gehversuchen im freien Markt der Kunstwelt hat mir meine digitale Präsenz sehr geholfen. Schließlich wurden so etablierte Künstler wie Franz Graf oder Florian Reither von „Gelitin“ auf mich aufmerksam. Bis heute kommen immer wieder Sammler:innen auch durch das Digitale auf mich und meine Kunst zu. Ebenfalls diverse andere Akteur:innen der Kunstwelt können durch Plattformen wie Instagram leicht über meine Studiopraxis auf dem Laufenden bleiben. Das hilft dabei, sich über einen gewissen Zeitraum ein stimmiges Bild machen zu können und in weiterer Folge das Digitale ins Reale ausbauen zu können. Plattformen wie Instagram bieten einem breiteren Publikum die Möglichkeit, Zugang zu Kunst zu finden. Menschen, die es nie in die ernstzunehmenden globalen Kunsthallen schaffen, überholen enorm etablierte Künstler:innen mit ihren Follower:innen. Aber wie weit bringt das diese ,Instagram-Künstler:innen‘? Werden sie auf lange Sicht davon leben können? Was wir wissen: Ein neuer Markt hat sich aufgetan. Ein Markt, den es so nicht gäbe, wären alle vom klassischen Kunstmarkt und besagten Akteur:innen abhängig.
Du hattest vor kurzem eine Ausstellung im Hotel Sacher und hast den „Strabag Artaward International“ erhalten. Was sind nächste Projekte und worauf freust du dich besonders?
Während der Salzburger Festspiele stelle ich bei MAM Mario Mauroner Fine Arts in der Ausstellung „Garden of Senses“ aus. Ein zwei mal zwei Meter großes „post/pre“, ein sehr kleines „post/pre“ und ein mittelformatiges „Lesbian Jazz“ werden zu sehen sein. Mitte September bin ich bei dem Gallery Weekend Berlin dabei. In den Räumlichkeiten der KPM Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin präsentiert die Galerie Droste ihre Gruppenausstellung „Chronicles 3“. Ich werde mit zwei Großformaten vertreten sein. Des Weiteren sind für die kommenden zwölf Monate ein paar derzeit noch nicht öffentliche Projekte geplant. Ich freue mich aber schon, wenn ich mehr verraten darf.
„Kämpfe für dein Recht, du zu sein.“
Gibt es etwas, was du deinem zehnjährigen Ich aus heutiger Sicht zum Thema Identitätsfindung raten würdest?
Auch wenn sich jetzt noch keine Worte für die Person, die du bist, finden lassen – du bist Vorreiterin, die Worte und die anderen Menschen werden kommen. Verstehen und Verständnis werden kommen. Es tut mir Leid, dass du all diesen Schmerz auf dich nehmen musst. Aber bitte gib nicht auf und kämpfe für dein Recht auf Identität und Freiheit, für dein Recht, du selbst zu sein. Kämpfe für dein Recht auf medizinische Unterstützung als nichtbinäre Transperson. Kämpfe für dein Recht, du zu sein. Und wenn du irgendwann all die Jahre des Kampfes überstanden hast, wirst du durchatmen können, deine Wunden werden heilen und du wirst aufblühen. Wenn du das schaffst, dann wirst du nachfolgenden Generationen den Weg ebnen, indem du sichtbar sein wirst. Durch dich werden andere an sich glauben, durch dich werden andere weiterkämpfen.
Artwork
© Lamm Anouk
Photography
© Anouk: Aimée Kohn