Idols x Identities Edition

Chapter 16: “Woher weiß ich, dass ich queer bin?” – Micòl Masliah über die queere Identitätsfindung

Kinder werden oft danach gefragt, wer ihr Vorbild sei.
Und die traditionelle Antwort lautet: „meine Mama“ oder „mein Papa“.

Als Kind verbrachte ich sehr viel Zeit mit meinem Papa. Er ist einer der lustigsten Menschen, die ich kenne.
Gerade tanzt er in der Küche zu Lauv’s „I’m so tired“ und klatscht sich dabei rhythmisch auf den Bauch. 

Alles Wesentliche, was ich bis zu meinen Teenagerjahren wusste, hatte ich von ihm gelernt:
Die beste Eissorte ist Kaffee. 
Lachs schmeckt einfach nicht (und wir sollten Fischis generell in Ruhe lassen). 
Scharf ist immer besser als mild.
Filme muss man immer in Originalversion schauen.
Man sagt nicht „wir lieben uns“ oder „sie lieben sich“. Man liebt einander.

Als ich zwölf war, schenkte mir mein Papa eine CD von P!nks erstem selbstbestimmten Album, „Missundaztood“.
Ihr brandneues Album „I’m Not Dead“ war gerade erst erschienen,
aber Papa bestand darauf, dass ich sie zuerst entdecke.
Ich sollte schauen, ob sie mir überhaupt gefällt.

Und wie sie mir gefiel. 
Binnen drei Wochen hatte ich jeden Track auswendig gelernt.
P!nk war in meinen Augen einfach der coolste Mensch der Welt:
ihre starken Texte, die coolen Performances sowie ihre unglaubliche Ausstrahlung.
Viele sprachen von einem androgynen Look – ich wusste damals nicht, was das bedeutete.
Andere spekulierten über P!nks sexuelle Orientierung, ich dachte bei mir:
„Cool, vielleicht küsst sie mich ja eines Tages auch.

Ich glaube, P!nk als erstes Vorbild zu haben, war ein Segen für meine soziale Entwicklung. 
Später trudelten nämlich Serien und Filme wie „Desperate Housewives“, „Gossip Girl“ und „Twilight“ in unser Leben. Millennials waren das perfekte Publikum für diesen Blödsinn:
Wir wollten auch reich und schön und (in manchen Fällen) untot sein.
In Häuser einzubrechen und Frauen beim Schlafen zuzusehen war ein Liebesbeweis, reiche, weiße Schmollmund-Boys ach so „dreamy“ und das schwule Paar nebenan war ein erfrischender, aufregender Zusatz auf der Wisteria Lane. 

Ich fand Desperate Housewives nie sonderlich spannend, Gossip Girl hatte ich erst begonnen zu schauen, als die Serie schon lange abgedreht war, und die Twilight-Bücher waren einfach viel besser als die Filme. 
Ich denke aber an all meine Freundinnen, die diese Serien so liebten. 
Die jeden Donnerstag „schau ma Desperate“ schrieben und einander während der Werbung anriefen,
um Vorahnungen darüber auszutauschen, was als Nächstes passieren würde … 

Die Serie begleitet vier – wie der Titel besagt – „verzweifelte Hausfrauen“, deren Lebensinhalt, grob gesehen, darin besteht, sich in Selbstmitleid zu suhlen und Essen auf den Tisch zu bringen.
Jede Staffel beschäftigt sich mit einem großen Geheimnis, das sie aus ihrer langweiligen Idylle zerrt.
In den späteren Staffeln gibt es zwar eine leichte Wende in Richtung „woke“,
die immer wieder schnell ins Lächerliche gezogen wird.
Desperate Housewives ist nur ein sehr plakatives Beispiel von vielen.

Ich denke an meine lesbischen und bisexuellen Freund:innen,
an meine trans und nicht-binären Freund:innen,
an meine schwulen Freund:innen,
an meine Freund:innen, die keine Labels verwenden oder gerade dabei sind, diese für sich zu entdecken.
Wo hätten sie sich da wiederfinden können?
Mit wem hätten sie sich identifizieren können?
Mal ganz abgesehen davon, dass 99 Prozent der Darsteller:innen in diesen Serien und Filmen Weiß waren.
Aber darauf komme ich ein andermal gern zurück. 

Das klassische TV-Narrativ ist seit Beginn unseres Denkens „boy meets girl“.
Was ist mit „boy meets boy“, „girl meets girl“, „person meets person“? 

Man könnte meinen, das sei gar nicht so relevant.
Lena Dunham beschwerte sich einmal darüber,
dass Menschen sich immer mit fiktionalen Charakteren identifizieren wollen,
und keiner mehr eine Geschichte einfach genießen könne.

Aber, wie Carrie Bradshaw immer so schön sagte – ich komme nicht umhin, mich zu fragen:
Wie hätte mein Leben ausgesehen, wenn ich mit Medien aufgewachsen wäre,
die eine nicht hundertprozentige Cis-hetero-Welt dargestellt hätten?
Wie wäre es gewesen, wenn queere Beziehungen einfach stinknormale, öde Storylines gehabt hätten?
In etwa, dass sich Paare wegen Zahnpastatuben, Haaren in der Badewanne und Kleidung am Boden streiten,
ohne den Nebensatz: „Als zwei Frauen kennen wir das Haarproblem so gut, hihi, haha.“

Durch Serien wie „Glee“, „Special“, „Pose“ und „Please Like Me“,
sogar „Sabrina“ und „Riverdale“ wurden endlich andere Realitäten ins Licht gerückt.
Welten, Leben und Menschen, die in unseren privaten Bubbles wahrscheinlich nicht unbekannt waren,
aber die wir so noch nicht aus Mainstream-Medien kannten. 

Ich denke diesbezüglich an meine sechzehnjährige Schwester,
die ihre Pronomen in jedem öffentlichen Setting überall dazu sagt.
Weil das für sie eine Selbstverständlichkeit ist. 
Unlängst hat sie mich gefragt, ob meine Pronomen von Zeit zu Zeit zwischen „she“ und „they“ variieren,
und ob es schon ein gutes Äquivalent zu „they/them“ im Deutschen gibt.
Ich denke an meine nur ein paar Jahre jüngeren Freund:innen, die schon zur Gen Z gehören
und nichts von P!nk wissen, obwohl sie für mich damals doch so ein revolutionärer Charakter war. 

Heute sind es Künstler:innen wie Lil Nas X, King Princess, Doja Cat und Princess Nokia, die die Musikindustrie und somit auch uns im Sturm erobern. Es werden neue Narrative geschaffen, neue Geschichten erzählt.
Geschichten, die damals nicht existieren durften. 

Mein Papa, der auch Historiker ist, sagt, dass man niemals „was wäre, wenn“ fragen sollte.
Dennoch frage ich mich, ob ich früher drauf gekommen wäre, dass ich queer bin.
Und dass ich nichtbinär bin. Und dass zahlreiche coole Menschen auf der Welt es auch sind. 

Ich kann mir vorstellen, dass ich noch auf ganz viele andere Sachen kommen werde. 
Und meine Freund:innen sicherlich auch. Und mein Papa auch!
Deshalb erfreue ich mich bis dahin an den Vermutungen darüber,
was nach der Werbung noch alles passieren könnte. 

Pictures:
© Stefano Aliffi



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